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Der Aufstieg

 

7. Mai 2022, 20:01 Uhr. Bierstein ruft an:

„Schaust du dir gleich Schalke an?“
„Ja. Ich denke schon.“
„Soll’n wir zusammen?“
„Klar.“
„Gut. Dann bis gleich.“

In meiner Souterrain-Klause zeigt die Uhr viertel nach acht und ich habe den Fernseher schon mal angestellt. So ein bisschen Gedudel und Geflimmer vertreibt ein wenig das Gefühl des Alleinseins, auch wenn nur der unvermeidliche Alleswisser im Beisein einer spritz-geglätteten Schönen seine Ahnungslosigkeiten zum Besten gibt. Das feuert meine Stimmung zwar nicht an, aber wenigstens sind im Hintergrund Gesänge zu hören und blau-weiße Fahnen werden geschwenkt: Das ist es doch, was zählt. Ich muss mir nur das Gesülze der Wichtigtuer wegdenken.

Schade, früher konntest du bei Sky den Stadion-O-Ton einschalten. Da warst du dann wirklich mittendrin. Aber das hier ist eben nicht Murdochs Sky, dies ist der Sender, der den ganzen Tag zeigt, wie dicke Amerikaner mit noch dickeren Frauen irgendeinen Schrott aus irgendwelchen Garagen ersteigern: Kaufen als Sport? Das muss wohl so sein, denn dieser Kanal nennt sich Sportsender. Aber heute Abend will ich nicht meckern, heute Abend gibt’s richtigen Fußball zu sehen, Tradition gegen Tradition, Kiez gegen Kohle, also gleich, wenn Herr und Frau Wichtig von der Rasenkante verschwunden sind und die Wettanbieter dieser Welt mit jeder Menge Schwachsinn ihr Dasein kund getan haben.

 

„Glück auf, Glück auf …“ Bierstein lässt des Bergmanns Ruf bei der (Keller-) Nacht erschallen, auf dass der Freund wisse, dass er — aus dem ersten Obergeschoss herabgestiegen — naht und sich nicht erschrecke. Dann steht er lachend in der Tür: Blaues Trikot, blau-weißer Schal, Flasche Bier in der Hand. Bierstein ist Mitglied.

„Wo ist denn dein Schal und warum hast du kein Trikot an?“, geht er mich an Stelle eines Grußes an.

„Den Schal häng ich mir gleich um. Das Trikot lass ich heute weg. Ich hab ja nur das helle Auswärtsleibchen. Das ist nicht stimmig, wo die doch zu Hause spielen. Aber glaubst du, der Schal nützt was?“

„Nee, ist aber gut für die Stimmung.“

Wir setzen uns. Über den Bildschirm flimmert — inzwischen tonlos — Reklame.

„Ich hab heute beim Training die Kollegen fertig gemacht.“, lacht er, „Verzweifelt nicht, habe ich gesagt, wenn das nach dreizehn Minuten schon 2:0 für Pauli steht. Am Ende gewinnt Schalke 4:3!“

Bierstein verwendet niemals das zugehörigkeitsanzeigende Fürwort Wir: „Steh ich mit auf’m Platz? Nein!“, hat er mir einmal erklärt, „Also gewinnen oder verlieren Die“. Da ist er genau und kompromisslos und lässt höchstens ein Aber ich war dabei zu.

„Willst du nicht mal laut machen?“, fordert er und macht sich sein Bier auf, „Die spielen ja schon.“

 

Um zwanzig vor Neun nimmt die Prophezeiung des Herrn Bierstein Gestalt an: Matanovic von den Kiezern setzt die Kugel platziert ins Tor.

„Unhaltbar!“, ruft Bierstein, „Den kann er nicht kriegen!“

„Das hat der von Pauli ziemlich gut gemacht.“, sage ich, „War aber auch ein bisschen schlampig verteidigt. Ob Fährmann den gehalten hätte?“

„Wissen wir nicht … Der steht nicht im Tor … Das ist hypothetisch.“ Mein Sitznachbar bleibt erstaunlich gelassen.

„Warum spielt der eigentlich nicht mehr?“

„Weiß ich nicht, habe ich mit Mike auch nicht drüber gesprochen. Ist jetzt auch egal.“

„Du kennst Mike? … Natürlich kennst du Mike … Es gibt ja kaum einen Menschen, den du nicht kennst.“

Als Herr Nuhr seinerzeit Fotos im Palast von Pjöngjang machen durfte, ließ der Vorsitzende den Deutschen holen und gab dem über die Maßen Verdutzten eine Grußbotschaft an „den lieben Bierstein“ mit (Ja, tatsächlich auf Deutsch).

Und als eben jener Nuhr in Norddakota, in Fort Yates am Missouri River Station machte, um den Ort der Einäscherung von Sitting Bull zu besuchen, schickte der Häuptling der ansässigen Indianer vom Stamme der Hunkpapa-Lakota-Sioux einen berittenen Boten, der jenen Besucher darum bat, Grüße an „My dear friend Chief Beerstone“ zu überbringen.

„Mensch! Terodde!“, schreit Bierstein und springt auf, als jener den Ausgleich knapp verpasst. „Den kann man auch schon mal machen!“

„Wenn sich das mal nicht rächt.“, sage ich.

Bierstein dreht den Kopf in meine Richtung und schaut mich mit einer Mischung aus Frage, Entgeisterung und Verzweiflung an, als wolle er sagen: „Och nee! Sei doch still! Du hast doch überhaupt keine Ahnung!“ Aber er schweigt.

Dafür schreit kurz darauf der Kommentator die in solchen Fällen üblich gewordene aber völlig blödsinnige Frage: „Ja, was ist denn hier los?“. Ja was denn wohl? Irvine von den Paulianern nimmt ein Geschenk des Schalker Keepers dankend an, spielt den Ball zu Matanovic und der erhöht ohne Mühe auf 0:2.

„Hab‘ ich doch gesagt.“, regt Bierstein sich auf, „Dieser Österreicher hätte in Holland bleiben sollen!“ Seine Erregung bezieht sich dabei gar nicht einmal auf das Ergebnis (das hatte er ja prophezeit), sondern einzig auf die Art wie es zustande gekommen ist.

„Der hat falsche Vorbilder.“, sage ich, „Nur, weil Allison bei Liverpool spielt, muss er dem doch nicht alles nachmachen. Allison ist der Running Gag in jedem Spiel, Fraisl ist, wenn er sich als spielende Nummer Eins versucht, einfach nur peinlich. Bei den Reds kann sich der Brasilianer das erlauben, die schießen einfach immer ein Tor mehr als der Gegner. Aber Schalke?“

„Warts ab!“, orakelt Bierstein, „Warts ab!“

„Na, ich weiß nicht so recht. Deine Verheißung hat jetzt ne Delle, wir haben ja schon die 17. Minute …“

„Was ist denn eine Delle in einer Verheißung?“ Der Freund amüsiert sich köstlich.

„Keine Ahnung.“, sage ich, „Irgendwie kaputt, mir ist so schnell nichts anderes eingefallen.“

„Einigen wir uns auf Kratzer oder Makel. Oder Schönheitsfehler.“ Da spricht die Enzyklopädie der Synonyme aus dem gelernten Germanisten.

„Na gut.“ Ich muss lachen. „Bildungsauftrag erfüllt.“

In der 23. Minute hält uns nichts mehr auf dem Sofa: Schalke hat den Anschluss geschafft – oder doch nicht? In der x-ten Kameraeinstellung ist zu erahnen, dass Itakura vor dem finalen Torschuss der Ball an die Hand gesprungen sein könnte. Also wieder hinsetzen, kein Anschluss, Freude einstellen und Hoffnung dämpfen. Ich mag immer noch nicht an Bierstein den Wahrsager glauben.

„So’n Scheiß! Das wär’s gewesen!“

Es geht noch eine halbe Halbzeit hin und her, aber es kommt nichts Zählbares dabei heraus. Dann ist der erste Abschnitt beendet. Zeit, ein neues Bier zu holen und den Ton wieder abzuschalten. Die Reklame ist langweilig und Analysen der beiden Spielfeldrand-Figuren brauchen wir nicht, denn wir haben hingeschaut, alles gesehen und wollen auch gar nicht wissen, was hätte passieren können, wenn etwas anderes vorher passiert wäre, was nur hätte passieren können, wenn der Schiedsrichter mal gerade nicht hingeschaut hätte.

Wir stellen unsere Rangliste der ungewöhnlichsten Spielerfrisuren auf und Vermutungen an, warum Terodde heute nicht gut drauf ist.

„Er hätte vorher ein Schnäpschen trinken sollen, dann wäre er nicht so verkrampft und vielleicht auch leichtfüßiger.“

„Das geht nicht.“, sagt Bierstein, der sich auskennt, wie kaum ein Zweiter hier im Keller. „Das ist Doping, und“, fügt er hinzu, „Schalke ist nicht der FC Terodde. Da müssen eben die anderen treffen … Itakura zum Beispiel oder Bülter.“

„Sag mal, haben die den Japaner eigentlich nur deshalb eingestellt, damit sich Schalke in Japan besser vermarkten lässt?“ Bierstein kann man so was fragen, Bierstein kennt sich aus.

„Wahrscheinlich. Aber der kann auch was.“

„Ja, Handspiel vorm Torschuss.“, lache ich, „Kann nicht jeder. Das war in aller Schönheit einer Nicht-Absicht schon ziemlich gut.“

Die zweite Halbzeit beginnt.

Terodde wird im Strafraum an der freien Entfaltung seines Bewegungsdrangs gehindert und Herr Fritz verhängt einen Strafstoß. Der Gehaltene übernimmt selbst die Vollstreckung des Urteils und wieder springen zwei im Keller auf, brüllen „Tooooor!“ und pflanzen sich den Keim der Hoffnung ein.

„Pass auf.“, sagt Bierstein, trinkt einen großen Schluck Bier, „Jetzt geht’s los.“

„Ach ja?“

„Ja, wie ich gesagt habe. Schalke gewinnt jetzt.“

„Da müssen aber noch zwei Tore her.“ Ich glaube nicht so recht daran. Da bin ich Defätist.

Bierstein nimmt seinen Schal ab und breitet ihn auf der Anrichte unter dem Fernseher aus: „Damit die auf’m Platz mitkriegen, was ich vorher gesagt habe. Die Kraft der Gedanken … Du weißt schon …“

„Hauptsache es wirkt.“, lache ich, leicht euphorisiert durch den Anschlusstreffer, doch wenn ich bedenke, wie der Treffer gefallen ist, nehmen meine Zweifel schlagartig wieder überhand. Aus dem Spiel heraus klappt nichts und nur auf Elfmeter zu bauen, finde ich äußerst gewagt. Pauli verteidigt gekonnt und vor allem sicher. Die blau-weiße Truppe hat noch nicht den nötigen Biss, hat immer noch kein Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit gefunden.

Aus dem berühmt berüchtigten Nichts aber wenigstens aus dem Spiel heraus fällt dann doch ein Tor für die Knappen.

„Abseits.“, sage ich und schone meine Stimme, „Wirst sehen. Es soll einfach nicht sein.“

„Ja, glaube ich auch.“ Bierstein schüttelt den Kopf. „Wird langsam Zeit, dass die aus dem Quark kommen. Nur noch gut zwanzig Minuten.“

Und richtig: Kein Tor. Kalibriertes Abseits aus dem anderen Keller. Drei Minuten später reißt es uns dann doch wieder vom Sofa: Ein weiterer Glückstreffer. Mehr durch Zufall als gewollt fällt ein Kopfball Terodde vor die Füße und der schiebt den Ball dem Torhüter durch die Hosenträger. Doppelpack nennt man das wohl. Nur noch ein Tor und die Blau-Weißen sind aufgestiegen, nach nur einer Spielzeit, nach nur einem einzigen Anlauf.

„Jetzt glaub ich langsam doch an deine Vorhersage. Wenigstens in der Tendenz.“, sage ich zu Bierstein, der lächelnd und mit glänzenden Augen neben mir steht, sein Bierglas in der Hand, denn inzwischen hält uns nichts mehr auf unseren Sitzen.

Es vergehen weitere sieben Minuten, bis die Blue-Men-Group uns zum nächsten Torschrei zwingt.

„Jetzt können wir uns wieder setzen.“, sagt Bierstein, „Das bleibt jetzt so.“

„Nächsten Samstag werden deine Spieler nur noch kniefällig um Unterweisung durch den großen masa bwana bitten.“

„Ja.“, lacht der Freund, „Und sie werden auch nicht mehr Gehfußball spielen wollen sondern Kniefußball.“

„Nebenbei. Kannst du mir nicht die Lottozahlen für nächsten Mittwoch verraten?“

Inzwischen haben wir uns wieder gesetzt und entspannt zurückgelehnt, verfolgen die enorme Nachspielzeit von acht Minuten, sehen noch jeweils eine große Möglichkeit auf beiden Seiten. Aber das wäre dann des Guten doch zu viel gewesen, wenn das Spiel tatsächlich 4:3 ausgegangen wäre.

 

Wir waren dabei als der Aufstieg des FC Schalke 04 erkämpft wurde. Zu dumm nur, dass mein anderer Herzensverein, bei dem ich Mitglied bin, an diesem denkwürdigen Abend die Meisterschaft in England durch ein Unentschieden wohl endgültig verspielt hat.

Dann holt der LFC eben nur drei Titel.