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Der rote Teppich
Bisher den Mächtigen und Schönen dieser Welt vorbehalten, um sie nach antiker Legende den Göttern gleichzustellen, sie zu Unerreichbaren zu machen, hat dieses purpurfarbene Knüpfwerk nun Einzug bei den Balltretern gehalten. Nicht bei allen, nur bei denen, die im Gehen den Ball stoßweise bewegen.
Wieder einmal gehen die wendigen und unternehmungslustigen Alten einen entscheidenden Schritt voraus, sind die ersten, die diesen „roten Teppich“ als Trennmarke zwischen Erlaubt und Verboten eingeführt haben. Nur der Ball, dieser Unberechenbare, wird eingeladen, mit eleganter Drehung um sich selbst die blutgrätschenrote, kostbare Auslegeware zu überrollen und im Netz Platz zu nehmen, umschmeichelt vom Blitzlichtgewitter der Weltpresse. Dabei ist es gleichgültig, ob er als Geschoss, als Roller oder als krummes Ding in Erscheinung tritt: Hauptsache, er erscheint mit geschwellter Luftblase.
Das Betreten durch das um Verteidigung bemühte Fußvolk zum Zwecke der Abwehr ist verboten. Das soll nach immer torärmeren Begegnungen der Belebung des Spiels und einer Flutung der Tore dienen, weil der verkappte Torwart damit abgeschafft wird. Ein Verstoß zieht eine Strafe nach sich, die nach Meinung vieler Unwissender einem geschenkten Tor gleichkommt: Ein Stand-Kick von der Mittellinie, allerdings ohne dass jene Abwehrrecken, welche die Strafe durch Unachtsamkeit oder Hinterlist herbeigeführt haben, das Metall-gerahmte Netz schützen dürfen. „Das ist doch Kinderkram!“, rufen die Ahnungslosen und verkennen den ungeheuren psychischen Druck, der auf dem Scharfrichter liegt.
Bei doppelter Entfernung und einem Sechstel der Zielgröße wie bei den Rennfußballern soll er die Lederkugel ins Tor befördern … Da ist nichts geschenkt, da werden präzise Technik und höchste Konzentration verlangt. Häme und Spott werden fälschlich über dem Versager ausgeschüttet.
Doch hätte man dieses für Füße verbotene Feld nicht besser mit einer dicken – auch gerne roten – Matte auskoffern und mit Schmierseife glitschig machen sollen? Jede Zuwiderhandlung wäre Unterhaltung vom Feinsten, Slapstick von älteren bis alten Menschen und: Die Sünder fielen weich. Niemand müsste die Verfehlungen überwachen, alles würde von ganz alleine öffentlich – und vor lauter Lachen könnte ohnehin nicht weitergespielt werden. Der Ausrutscher zählte automatisch als Tor und damit wäre auch der beliebten Doppelbestrafung Genüge getan.
„Nein“, rufen die Verantwortlichen, „Nein und nochmals nein! Bei uns geht es ernsthaft und professionell kontrolliert zu. Wir wollen außerdem jede psychische und körperliche Verletzung unserer empfindlichen Gehkicker vermeiden. Komik hat auf dem Platz nichts verloren. Basta!“
Ach ja? An dieser Stelle kommt der anteilnehmende und durchaus wohlmeinende Chronist ins Grübeln: Die Protagonisten gehen inzwischen so vehement zur Sache, dass so mancher rundliche oder asketische Balltreter durch Gegners Übermut oder -eifer auf dem Rücken liegt, käfergleich und die Beine in die Luft der eine, kreuzigungsfertig, alle Viere von sich gestreckt der andere. Da nützt auch die ach so kameradschaftlich vorgetäuschte Aufstehhilfe nichts: Schmerzen, blaue Flecke, geborstene Brillengläser oder gar Schlimmeres können nicht mit einer oberflächlichen Geste rückgängig gemacht werden. Wut, Unverständnis und verletzter Stolz brennen sich tief ein: Rachegedanken schwelen unter der – ab dem Zwischenfall nur noch zur Schau getragenen – Maske der Fairness. Und das Gedächtnis für derlei Unsportlichkeiten arbeitet bei den Alt-Agilen noch einwandfrei. Da wird so schnell nichts vergessen.
Es soll bei dieser körperlosen Gentleman-Variante des grundsätzlich ja kampfbetonten Spiels sogar schon zu handfesten Auseinandersetzungen gekommen sein. Beschwichtigen während und Abwiegeln nach dem Spiel: „Ach, das war doch nicht böse gemeint.“ oder das angebotene Freibier nach Spielschluss helfen in diesen Fällen wenig. Hier gehören ein paar alte Ohren langgezogen, eine längere Denkpause und Antiagressionstraining angeordnet, drei Punkte in Nyon eingetragen oder, wenn gar nichts mehr hilft: Hundert Mal schreiben: „Ich bin ein vornehmer, fairer und achtsamer Mensch und weiß mich zu benehmen.“
All diese Maßnahmen werden aber nicht ergriffen und jetzt erkennen wir eine bisher geheim gehaltene Aufgabe des kleinen, textilen Stücks: Es markiert nicht nur eine verbotene Zone sondern dient auch – kurz mal angehoben – dazu, alle Unzulänglichkeiten der Elder-Soccer-Men darunter zu verwahren. Die Farbe Rot signalisiert: Nicht anheben, alles unter der Decke lassen und – besonders wichtig – nicht für den Außenstehenden geeignet. Schaut man bei größeren Turnieren ein wenig genauer hin, fällt auf, dass manche Ecken bereits nach kurzer Zeit deutlich sichtbare Spuren von häufigem Anheben zeigen, unerklärliche aber höchst auffällige Verwerfungen wölben die Oberfläche und machen ein Betreten gefährlich.
Erstaunlicherweise verschwinden Eselsohren, Beulen und Falten beim Aufrollen und Lagern, und bei der nächsten Verwendung liegt der rote Teppich zu Beginn der Veranstaltung wieder unschuldig und glatt, bereit, Grenzen zu setzen und zuzudecken …