Eine Meinung vertreten | Kopfkino | Musik machen

🕑 11

Eine »Dönninghaus« in Gerthe

 

Die Reviermeisterschaft steht unter dem Stern der Initiative 
„Für Derbystimmung – gegen Gewalt“, die im Jahr 2008 gemeinsam von Borussia Dortmund, dem VfL Bochum und dem FC Schalke 04 gegründet wurde.

 

Es ist Herbst. Aber mal so richtig. Das Wetter im Pott ist den angereisten älteren Herren aus Bochum, Dortmund und Schalke heute nicht besonders gut gesonnen. Dichte Wolken, als solche aber kaum voneinander zu trennen, drücken mit ihrem eintönigen Grau aufs Revier und aufs Gemüt. Es ist schon Vier durch, der Tag neigt sich bereits und es nieselt, ganz fein und alles durchdringend, bei Temperaturen, die Gicht und Rheuma wirklich abträglich sind. Da will so recht keine Vorfreude aufkommen — weder bei den Akteuren noch bei den handverlesenen Enthusiasten, alle aus dem Land, das lange brauchte, ehe es auf Brachen, Halden und in museumsreifen Überbleibseln aus der Asche der Vergangenheit wiedergeboren wurde.

Zeitgleich wird die Reviermeisterschaft der präpubertären Jungs (neudeutsch: Kids) ausgetragen und so nimmt es nicht Wunder, dass reichlich Eltern als Fans ihrer kickenden Augäpfel herumlaufen. Eigentümlich anzuschauen: gelassene und entspannte Mütter und Väter einerseits und Möchtegern-Fast-Profis andererseits, die sich bereits jetzt kaum im Gehabe von den Groß-Geredeten ihrer Zunft unterscheiden, obwohl gerade erst dem Laufstall entwachsen …

Die beiden kickenden Generationen teilen sich den Kunstrasenplatz quer, die einen rennen sich die Lunge aus dem Leib, die anderen mühen sich, ihren Leib zu bewegen – aber immer schön mit einem Bein am Boden. Ich stehe ein wenig erhöht, also vielleicht einen guten Meter, auf dem, was der wohlgesonnene Gerther als Tribüne bezeichnen würde. Links stützen sich zwei Schalker Altinternationale, Trainer der eine, Spieler und Trainer der andere, auf einen Wellenbrecher, der hier diesen Namen gar nicht verdient und fachsimpeln:

„Die Bochumer haben da rechts in der Verteidigung einen, das könnte mal ein Guter werden.“

„Genau.“, sagt Klaus Fischer, der eine halbe Stunde lang den Eingang zur Anlage nicht gefunden hat. Und dieses eine Wort verrät immer noch seine Herkunft aus dem bayerischen Wald, trotz fast fünfzig Jahren auf Kohle.

Aha, denke ich, die interessiert auch nur das Spiel des Nachwuchses. Aber: Falsche Gedankenverbindung, nicht nur Kinder haben eine Zukunft. Als Martin Max seinen Arm hebt und noch einmal auf eben jenen Begabten zeigt und dabei „Siehste?“ sagt, stellt sich heraus, dass er einen aus dem Walking Sixpack des VfL meint. Was soll aus ihm noch werden, außer, dass er älter wird? Ein von Ehrgeiz zerfressener, stets unzufriedener, schimpfender Egomane? Einer dem die Freude an Bewegung bei weitem nicht mehr genug ist? Einer der draufhaut oder den Schiedsrichter angeht, wenn sich ihm, dem Unantastbaren, einer in den Weg stellt und ihm seine Grenzen aufzeigt, die er längst verdrängt hatte?

Und so bekommt das Aufwärmen der Gelenksteifen vor dem Spiel plötzlich eine neue Bedeutung: Stretching betreiben die Alten nicht für ihren Körper sondern um den Gegner einzuschüchtern: Seht her, wie fit ich noch bin. Und damit die anderen das Knacken und Knirschen der Gelenke, das Stöhnen und Ächzen der Arthritischen auch bloß nicht hören, ziehen sie sich aus der Hörweite der anderen zurück.

„Früher sind die einfach so über das Geländer gesprungen und waren auf‘m Platz.“, sagt Frank, der sich zu mir gesellt hat, als er sieht, wie einige Spieler den langen Marsch in die Verwirklichung angetreten haben, „Heute gehen sie brav hinten herum, die vier Stufen runter und vorsichtig über die Aschebahn.“

„Na ja, ist aber auch kalt heute, woll’n wir doch nicht so streng sein. Ist eben Hallenwetter!“

„Ja, sehe ich auch so, aber beheizt und gut beleuchtet.“

„Aber warum gehen die nicht hier vorne die Stufen runter, das sind doch keine zehn Schritte bis auf den Platz?“

„Das haben sie offensichtlich ganz genau abgewogen: Solange wir unsere Aufwärm-Choreographie nicht aufgeführt haben – bloß nicht auffallen. Da machen sie lieber ein paar Schritte mehr.“

„Vor dem Anpfiff können sie ja so viele Schritte machen, wie sie wollen, aber auf’m Platz sollten sie jeden überflüssigen Schritt vermeiden und den Ball laufen lassen. Dann wäre es endlich so, wie sich die Erfinder dieses Spiels das gedacht haben … Wann die hier wohl die Lampen anstecken? Ist schon verdammt dunkel.“

„Gar nicht, wahrscheinlich.“, mault Frank, der nur einen Steinwurf von hier entfernt wohnt, „Der Ausrichter hat doch kein Geld.“

„Der VfL?“

„Irgendeiner hätte die beim VfL aufrütteln, ihnen die blauen Sechs schmackhaft machen müssen. Aber es gibt keinen oder keine, die sich das trauen würden. Was wäre das schön gewesen, wenn die Reviermeisterschaft auf den Trainingsplätzen an der Castroper stattgefunden hätte. Aber ich bin mir sicher, der Villis und die anderen vom Vorstand wissen noch nicht mal, dass heute hier gespielt wird und eine sogenannte offizielle Vertretung des VfL dabei ist. Die Enthusiasten von der Gehfraktion betreiben ihren Sport aus eigener Tasche! Die kaufen sogar die Wimpel im Fanshop, um sie vor dem Spiel zu tauschen!“

„Nein!“, sage ich, „Das glaube ich einfach nicht. Die müssen doch nach Statut der DFL eine Breitensportabteilung haben und die Gehkicker gehören dazu.“

„Haben sie auch, aber was da im Einzelnen passiert ist nicht so genau festgelegt. Schalke läuft hier mit dem Direktor Breitensport auf, Dortmund hat einen wichtigen Mann hier und die haben in ihren Vereinen auch was zu melden, die werden gehört … und wer ist vom VfL da? Wenigstens ist einer vom Sportamt hier …“ Frank schaut mich von der Seite an: „Ich gehe jetzt, ich finde dieses Spiel viel zu gefährlich … Herzkasper, überbeanspruchte Gelenke, falscher Ehrgeiz … Nee, das ist nicht meins. Die machen sich kaputt. Kaputter als sie schon sind. Da muss ich nicht bei sein.“

Spricht’s, verschwindet und lässt mich mit offenem Mund stehen. Ratlos.

 

Auf diesen krachenden Einsturz meines Bildes vom Freude spendenden Altherrensport und von meinem VfL brauche ich eine Wurst. Am besten eine von Dönninghaus, dem Hoflieferanten des VfL, obwohl mir im Augenblick alles, was irgendwie mit diesem Verein zu tun hat, quer runter geht. Aber die Fleischerei kann ja nichts dafür. Deren Wurst ist sensationell. Und tatsächlich gibt es die Leckerei am Grillstand: Den ersten Biss nehmen, Augen zu, Vorstellungskraft auf Hochtouren laufen lassen und das Hier und Jetzt vergessen. Tatsächlich stellt sich für einen Moment das lange vermisste Gefühl von Gegentribüne und etwas zu stark parfümierten Frisörinnen (Mutter und Tochter) ein, die jahrelang neben mir saßen, die im Winter immer ihre Wolldecke mit mir teilten und die mir beigebracht haben, dass es Spieler – vor allem beim VfL – gibt, denen man vor dem Anpfiff die Beine falsch herum eingehängt hat.

Leider wäscht der Gerther Oktoberniesel alles wieder weg. Und so genieße ich meine Dönninghaus und schaue mit unverhohlenem Missmut auf die lustlos zwischen gegnerischen Beinen herumstochernden Sixpacks. Ein paar Tore fallen wohl auch.

Die Rückrunde tue ich mir nicht mehr an.

 Eine Woche später erfahre ich aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen, dass es auch einen Sieger gab und zwei, die immerhin tüchtig an Erfahrung gewonnen haben: Schalke hat das Turnier gewonnen und durfte den Pokal (Neusilber-Blech auf schwarzem Marmor) mitnehmen. Die Sechs, die nur mit einer Sondererlaubnis das Wappen des VfL tragen, wurden zweiter und die Geher vom Borsigplatz belegten einen hervorragenden dritten Rang.