Lesezeit: ca. 11 Minuten
Elfmeter
Das große Spiel, der Höhepunkt des Jahres, ist zu Ende. Einen Sieger gibt es nicht, denn auch nach der Verlängerung sind keine Tore gefallen. Die Entscheidung fällt im Elfmeterschießen.
Mit einem Schlag erlischt die Beleuchtung im weiten Rund. Aus den Stadionlautsprechern dröhnt die beeindruckende Musik aus "Jurassic Park" und kündigt Gewaltiges an. Unverhofft flammen ein paar gezielt eingesetzte Scheinwerfer auf und tauchen eines der Tore und den Elfmeterpunkt in gleißend weißes Licht. Zwei Duellanten, der eine in den Farben seiner Mannschaft, der andere ganz in einfachem, leuchtenden Gelb, haben Aufstellung genommen. Es wird ein Zweikampf auf Sein oder Nichtsein. Achtzigtausend stehen mucksmäuschenstill und halten den Atem an. Ein solches Szenario haben sie noch nicht miterlebt.
Aber es geht in diesem Augenblick nicht nur um die Ehre, nicht nur um das Hochgefühl der Anhänger des siegreichen Hauptdarstellers. Nein, es steht neben den Millionen für die Vereinskassen auch viel Geld ungeklärter Herkunft auf dem Spiel. Einer der Präsidenten hat im Vorfeld seine Beziehungen spielen lassen, die eine oder andere offene Hand gefüllt und so dafür gesorgt, dass, im Falle eines Shootouts, die Entscheidung in einem einzigen Duell, Mann gegen Mann fallen soll. Das sei neu, das sei nervenzerfetzend und triebe die Anhänger wieder ins Stadion, waren seine Argumente, und die Verantwortlichen folgten seiner freundlich-pekuniär untermauerten Argumentation gerne. Die Duellanten sollten eine Woche vor dem Spiel benannt und vertraglich fixiert werden.
Und so haben die beiden Präsidenten eine - natürlich verbotene - Wette auf den finalen Schuss miteinander abgeschlossen, um den Kick noch einmal zu steigern. Sie wollen beide nichts dem Zufall überlassen, schon gar nicht, wenn es um ihr dubioses, nicht so sauberes Geld geht. Deshalb haben ihre „Unterhändler“ bereits Tage vor dem Spiel dem jeweils gegnerischen Kombattanten und dessen Ausfallvertretung ein Angebot gemacht, das jene nicht abschlagen mochten, denn ihnen lag und liegt viel an der Unversehrtheit von Frau und Kindern. Im Gefühl des sicheren Sieges lehnen sich die Mächtigen zufrieden in ihren Logen in ihre dick gepolsterten Sitze zurück. Einer der beiden muss lächeln, denn ihm kommt die Werbung für ein sauberes Spiel in den Sinn, die auf allen Banden in allen Stadien der Welt zu lesen ist und die er, der bekannt großzügige Gönner, gerne gesponsort hat. Der andere missdeutet die Heiterkeit, denkt sich seinen Teil und nickt dem Lächelnden gönnerhaft zu. Man wird schon sehen, wer am Ende Grund zum Lachen hat.
Die Sekundanten massieren ein letztes Mal ihre Duellanten und ziehen sich ins Lichtlose zurück. Der Unparteiische überprüft die Waffen, eine Lederkugel auf der einen und ein Paar Ace Trans Pro auf der anderen Seite, belehrt die Kontrahenten und weist sie auf die Einhaltung der festgelegten Regeln hin. Dann gehen die beiden auf ihre Positionen und der Unparteiische stellt sich abseits, weit außerhalb der Schussbahn und möglicher Querschläger, auf. Der Bunte legt die Lederkugel auf die dafür vorgesehene Stelle, der Gelbe bezieht seine Position auf der Linie, die den vorgeschriebenen Begrenzungsrahmen aus Aluminium unten zu einem geschlossenen Rechteck mit Fangnetz macht.
Der Bunte nimmt Anlauf, den Blick nur auf die Lederkugel gerichtet, stemmt seinen linken Fuß mit gestrecktem Bein neben der Kugel fest in den Rasen, beugt den Oberkörper ein wenig nach vorne und schleudert mit gewaltiger Beschleunigung sein im Kniegelenk angewinkeltes, rechtes Bein nach vorne. Sein Fuß soll mit präzise ausgerichtetem Gelenk die Kugel auf halbem Durchmesser treffen und dabei die Energie perfekt mit dem Vollspann übertragen. So ist es geplant, so wird es gemacht und so hat er es schon hunderte Male geübt. Nur heute darf er auf keinen Fall treffen. Ein Treffer wäre fatal für seine kleine Familie. Alles dreht sich vor seinen Augen, er schwitzt, gerät ins Straucheln und stürzt, aber ohne den Ball zu berühren. Achtzigtausend im pechschwarzen Rund stöhnen laut auf, doch das hört er nicht, fühlt sich wie in Watte eingepackt.
Hätte er seinen Schuss ordnungsgemäß ausgeführt, verformte sich die Kugel, nähme wieder die ursprüngliche Gestalt an, setzte sich mit der Geschwindigkeit des treffenden Fußes in Bewegung und flöge, wie an der Schnur gezogen, auf das Ziel zu. Den Einschlag, den Treffer will der andere Duellant aber um jeden Preis verhindern, und er ist ein Guter, wie man weiß. Er, der Schütze, müsste schon perfekt geschossen haben, damit ihm und seiner Familie nichts geschehen kann. Nun aber liegt er da, sein „Geschoss“ vor Augen, Frau und Tochter in höchster Gefahr.
Der Unparteiische pfeift.
„Noch einmal!“, ruft er und bittet die beiden Duellanten, ihre Plätze wieder einzunehmen, „Das zählt nicht! Der Ball wurde nicht bewegt!“
Die Kugel liegt immer noch da, wo er sie eben sorgfältig platziert hat, und es scheint, als grinse sie ihn an. Er hat sich aufgerappelt, hat sich geschüttelt, versucht trotz aller Widrigkeiten seine Konzentration erneut aufzubauen und steht wieder genau abgemessene fünf Schritte hinter dem Ball. Dann läuft er erneut an und diesmal gelingt ihm der Schuss in Vollendung.
Sein Kontrahent steht auf der Linie, ist, wie man so schön sagt im Tunnel, als sich unvermittelt die Erinnerungen an Frau und Sohn vor seine Augen legen. Er sieht ihre Bilder aus dem Nebel am Ende des Tunnels auf sich zurasen und plötzlich wird aus seinem Traumbild das Geschoss, das auf ihn abgefeuert wurde. Kaum ein Drittel einer Sekunde bleiben ihm, um zu reagieren. Er darf sich der Kugel bloß nicht in den Weg stellen. Er will nicht mehr hinschauen. Er, der erfolgreichste Elfmetertöter aller Zeiten, soll sich von dieser bunten Witzfigur überwinden lassen, von einem, der nur selten einen Schuss vom Punkt verwandelt hat.
Er drückt sich ab, rutscht weg, schlägt mit ausgestreckten Armen der Länge nach hin, hört es klatschen, wie wenn der Ball das Aluminium trifft. Dann spürt er den Schlag der Kugel hinten am Kopf und bleibt halb benommen liegen. Menschen schreien, Menschen jubeln. Er weiß für einen Augenblick nicht, wo er ist. Dann wird ihm die Situation klar, seine Situation. Ist die Kugel eingeschlagen? Er weiß es nicht. Langsam hebt er den Kopf, dreht sich um, sucht mit den Augen im Netz nach dem Ball und findet ihn … Alles dreht sich und er bleibt einfach liegen, während sein Widersacher auf dem Elfmeterpunkt kniet und sein Gesicht in den Händen vergräbt.
Der präsidiale Gönner springt auf, die Männer und Frauen in seiner Umgebung schlagen sich die Hand vor den Mund. Keiner spricht und in die Stille klingelt sein Handy: „Na, mein Lieber? So ein Pech aber auch!“ Aus dem Lautsprecher ist ein hämisches, Lachen zu hören. „Vielleicht beim nächsten Mal … Und lass mir bloß den armen Torwart in Ruhe, der kann ja nun wirklich nichts dafür. Der ist so gekonnt, elegant und mit vollem Einsatz ins Nichts gerutscht. Unterhaltung vom Feinsten. Ich habe so gelacht.“ Aus der Nachbarloge dröhnt schallendes Gelächter herüber, das auch ohne technische Unterstützung zu hören ist. „Ach, übrigens, meine Leute passen auf seine Familie auf. Also pfeif deine zurück! Wir wollen doch keinen Krieg, Luigi, amico mio.“
Don Luigi, il Presidente, beendet die Verbindung, wirft das Handy vor sich auf den Tisch, sinkt zurück in seinen Logensessel und seufzt: „Allora! Peccato! Cosi è la vita.“ Dann nimmt er sein Glas mit edlem Grappa, hebt es in Richtung Spielfeld und trinkt es leer. „Lasst uns gehen … keiner gibt mir diesem Torwart irgendeine Schuld. Ein Klassemann. Ich werde mir diese einmalig spannende Elfmeter-Performance patentieren lassen. Die ist jeden Cent wert. Genial.“ Dann lacht er laut und stürmt davon.