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Walking Football League
1. Finalturnier am 10. Oktober 2019 in der Glückauf-Kampfbahn auf Schalke
Seit über fünfzig Jahren war ich nicht mehr hier. Früher, als Halbwüchsiger, bin ich mit dem Fahrrad oder mit Zug und Straßenbahn gekommen. Jetzt, als alter Mann, nähere ich mich, von Norden kommend, mit dem Auto, biege direkt nach der Autobahnbrücke der A42 über die Kurt-Schumacher-Straße nach rechts ein und links, ein paar Meter tiefer, liegt sie: die Glückauf Kampfbahn, magischer Anziehungsort fußballverrückter Malocher seit 1928.
Ein wenig traurig sieht sie aus, so ganz ohne die steinernen Stehtribünen, die zum größten Teil einer Grasböschung weichen mussten. Nur die überdachte und denkmalgeschützte Haupttribüne steht noch.
Ein paar hundert Meter weiter parke ich, laufe an einem etwas ungepflegten Rasenplatz vorbei zurück und betrete durch eines der (ehemaligen) Kassenhäuschen auf der Nordseite das Gelände.
In diesem altehrwürdigen Stadion, auf dessen Rasen sich wirklich große Legenden erschaffen haben, findet heute auf einem äußerst profanen Kunstrasen, den man hier inzwischen verlegt hat, ein europäisches Fußball-Turnier von sehr alten Männern und etwas jüngeren Frauen statt, die nicht mehr dem Ball hinterher rennen sondern mehr oder weniger gemächlich gehen (sollen).
Schalke 04 hat als gastgebender Veranstalter Mannschaften aus Belgien, den Niederlanden und Deutschland zum ersten der beiden Finalturniere der Walking Football League geladen. Ein Treffen von Gehfußballern in dieser Größenordnung soll das bisher erste seiner Art sein, wie man mir im Vorfeld stolz erzählt hat. Was wohl die DJK Teutonia Schalke-Nord dazu sagt, die sonst das Stadion nutzen darf.
Ich bin etwas spät dran und der Spielbetrieb ist bereits in vollem Gange. Drei Plätze, die sie heute ganz international pitch one, two, three nennen, sind mit Hütchen abgeteilt und auf jedem gehen zwölf Menschen allerlei Geschlechts ihrem Sport nach, beaufsichtig und zurecht gewiesen von einem stehenden, jungen Mann in Schwarz mit Trillerpfeife. Jedem Spielfeld ist ein Tischchen unter einem blau-weißen Sonnenschirm zugeteilt, auf dem eine Klapptafel steht, mit der man den Spielstand anzeigen kann. Eine nette Idee für die wenigen Zuschauer, die – wie ich – aus dunklen und geheimen Quellen von einer Europameisterschaft auf geheiligtem Boden erfahren haben und die nicht als Betreuer oder Pfleger ihre Arbeit verrichten. In einer blauen Luxus-Kommandobox – vom Hauptsponsor der Schalker zur Verfügung gestellt – gibt sich die Organisation alle Mühe, den Überblick zu behalten und ihn für alle Interessierten transparent zu machen. Das Vorhaben gelingt unter Einsatz modernster Gerätschaften ganz ausgezeichnet.
Mein Hiersein ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass ich gebeten wurde, Bilder für die Nachwelt festzuhalten. Und so ist mir auch heute wieder einmal versagt, einfach nur zuzuschauen und zu genießen. Wie immer braucht es seine Zeit, bis ich mich im großen Durcheinander der handelnden Personen und der am Rande stehend Mitfiebernden, von mehr oder wichtigen Beobachtern und lächelnden Genießern zurecht gefunden habe.
Auf einem der Plätze findet gerade ein Vergleich von blauem russischen Gas und grünster holländischer Elektrizität in Rot statt: Schalke gegen Twente Enschede. Ein Blauer ist über einen Roten gestolpert oder hat sich einfach nur erschrocken, dass der andere urplötzlich neben ihm auftauchte. Jedenfalls kniet der Deutsche vor dem Holländer und lässt sich Händchen haltend von ihm aufhelfen. Beide lachen, nehmen die Sache überhaupt nicht ernst. In diesem Augenblick stürzt der Schiedsrichter mit verkniffenem Gesicht auf die beiden zu und setzt zu einer belehrenden, Regel erklärenden Standpauke an, dass Grätschen und Rempeln verboten sei und dass man sich doch gegenseitig respektieren solle und so weiter und so weiter. Den beiden Spielern vergeht ihr Lachen und etwas verwirrt schauen sie sich fragend an, weil sie das ganze Theater überhaupt nicht verstehen können. Was will der junge Mann? Warum schimpft er? Sie schütteln beide mit dem Kopf, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter und lassen den Mann in Schwarz einfach stehen. Jetzt ist er beleidigt, doch das Spiel geht weiter.
Die Umstehenden können sich ein Lachen nicht verkneifen und haben ihren Spaß, denn am Boden liegende Spieler sind sehr selten, weil es schließlich verboten ist, den Gegner zu Fall zu bringen. An diese Vorschrift halten sich die Spieler (fast immer), nur mit dem Gehen und Laufen haben sie ihre Probleme. Das sollte sich aber in den nächsten Jahren einpendeln. Zur Not muss ein Gehtrainer engagiert werden oder ein Videobeobachter in einem Keller in Resse macht ihnen Beine und holt sie auf den Boden zurück. Es soll sogar schon Versuche gegeben haben, mit einer leitfähigen Spielfeldoberfläche und codiertem Schuhwerk ständig zu überprüfen, ob mindestens ein Schuh eines jeden Spielers auf dem Boden ist. Aber das ist eine völlig überteuerte und unpraktische Zukunftsidee und deshalb wird sie wohl vom DFB demnächst ohne weitere Prüfung verpflichtend gemacht werden.
Ein paar Borussen-Männer aus Dortmund stehen mit verschränkten Armen ein wenig hilflos und verloren herum und betrachten die gerade laufenden Spiele der nächsten Gegner mit einer Mischung aus Argwohn und Bewunderung.
„Gegen die sollen wir gewinnen?“, sagt einer und schüttelt mit dem Kopf, „Nie im Leben!“
„Mann, du bist vielleicht ein Miesmacher! Lass uns doch erst mal spielen, die Wahrheit liegt auf’m Platz, auch bei uns Alten. Wolfsburg hat Twente geschlagen, womit kein Mensch gerechnet hat, und wir haben schließlich gegen Eindhoven und Nimwegen gewonnen.“
Aber die Befürchtungen des ersten werden sich schon bald bewahrheiten, einmal sehr deutlich und einmal knapp.
Zwischen all den Männern laufen erstaunlich viele Frauen herum. Nicht so sehr als Spielerinnen sondern mehr als Mannschaftsbegleiterinnen und Betreuerinnen. Es scheint, als hätten nur drei Spielerinnen in zwei Mannschaften den Weg nach Schalke gefunden: Zwei bei Frankfurt und eine bei einer holländischen Mannschaft. Diese Holländerin soll, so wird überall voller Bewunderung erzählt, einen enorm harten Schuss haben. Woher bloß? Diese Frage aber bleibt unbeantwortet. Die beiden aus Frankfurt spielen einen gepflegten Ball, gehen wirklich, spielen mannschaftsdienlich und machen eine gute Figur – also rein fußballerisch betrachtet. Das kommt der Idee, die hinter dem Gehfußball steckt, doch sehr nahe: Bewegung im Alter und Spaß dabei. Oder wie es ein Spieler aus Enschede auf den Punkt bringt: „Freude beim Spiel ist zwar ganz schön, aber die dritte Halbzeit ist die wichtigste.“
Neben den Spielern von Werder Bremen, die während der ganzen Zeit einen Mordsspaß haben, gehören auch die Männer und Frauen von Eintracht Frankfurt zu den immer gut Aufgelegten, trotz aller Anstrengung und Anspannung – und ganz ohne Alkohol. Das steckt an und lässt Zuschauen zum Vergnügen werden.
Nicht, dass die anderen Teilnehmer während des Turnierverlaufs Alkohol tränken, um ihren Frust über vermeintlich schwache Leistungen zu ertränken oder sich vor lauter Ehrgeiz gegenseitig ihre Fehler an den Kopf würfen, wie ich es bei den Westfälischen Meisterschaften erlebt habe, aber ein paar Züge aus der E-Zigarette müssen dann in den Spielpausen doch wohl sein, heimlich zwar und in der hohlen Hand versteckt und immer bei angeregten Diskussionen zu dritt oder viert, dicht beieinander, damit es bloß niemand mitbekommt. Gut, dass der stramme Wind die Schwaden schnell verteilt.
Um viertel nach eins ist Mittagspause, die Vorrundenspiele sind abgeschlossen und in jeder Gruppe gibt es einen ersten: In der Gruppe mit den schwarz-gelben Bedenkenträgern hat Leverkusen die Nase vorn, dicht gefolgt von den Mannen aus Nürnberg, die bis hierhin die meisten Tore geschossen haben. Die Borussen belegen einen annehmbaren dritten Platz. In der anderen Gruppe hat Schalke keinen Punkt abgegeben und Twente Enschede als zweiten hinter sich gelassen. Leider sind hier die Immer-Vergnügten aus Frankfurt mit den meisten Gegentoren nur Letzte geworden, die lustigen Bremer landen hinter Club Brügge im Mittelfeld.
Die Veranstalter haben wirklich an alles gedacht und so steht, wie in Köln der Geißbock oder in Frankfurt der Adler, ein nachgebauter Hunt als Symbol der Verbundenheit und der Wurzeln des FC Schalke 04 am Spielfeldrand. Praktischerweise hat dieses Gefährt dicke Gummiräder und so kann die Lore hin und her gefahren werden, um als Requisit für Erinnerungsfotos vor allem der ausländischen Mannschaften zu dienen. Anfangs stellen sie sich vor dem Förderwagen auf. Aber irgend jemand sagt ihnen, dass man den Wagen so gar nicht sehen kann. Und wie kleine Kinder, denen man Hilfestellung gegeben hat, trotten sie – einer hinter dem anderen – los und platzieren sich nun dahinter. Glück Auf!
Im Schatten der Haupttribüne, außerhalb des Stadions, stehen die blauen Verpflegungszelte. Es hat sich eine lange Schlange von hungrigen Spielern und Betreuern gebildet. Alle stehen geduldig und warten, bis sie an der Reihe sind. Dabei wird viel geredet und gelacht – Völkerverständig zwischen Nord und Süd und zwischen West und noch weiter im Westen.
Es gibt Gulasch mit Nudeln: Eine große Kelle mit Fusilli auf den Porzellanteller, eine große Kelle mit Soße und Fleisch darüber und der nächste bitte. Die beiden Frauen hinter dem Tresen mit der Bain-Marie leisten Schwerstarbeit – nicht wegen der „Kellerei“ sondern weil jeder, der an der Reihe ist, eine Bemerkung loswerden möchte und natürlich auf eine pfiffige Erwiderung wartet. Aber eine Frau, die auf Kohle geboren wurde, schafft das locker – eine ihrer leichtesten Übungen, denn Reden ohne Anlass und Thema zeichnet sie aus, sie hat dieses eine Gen, das es sonst auf der ganzen Welt nicht gibt.
Die meisten „Abgespeisten“ suchen sich mit ihrem Teller ein Plätzchen zum Sitzen, auf Treppen oder auf bereitgestellten Bierzeltbänken oder auf den hölzernen Planken der Tribüne. Manche zieht es auch in das Büdchen, das die Helfer von Teutonia Schalke auf halber Höhe in einem kleinen Raum des Tribünengebäudes betreiben. Dort bekommen sie warme Getränke und können ihr Geschirr auf einen Tisch stellen: Essen mit Kultur.
So ein heißer Kaffee tut ganz gut, denn der schneidende Wind ist ziemlich frisch und wer, wie ich, ein paar Stunden draußen nur gestanden hat, kühlt doch aus, innerlich und äußerlich. Die Lust, kreativ zu sein und einmalige Momente festzuhalten, schwindet von Minute zu Minute. Auch zwei Becher Heißgetränk helfen da nicht wirklich.
Ich bleibe noch für einige wenige Platzierungsspiele, halte noch ein paar Charakterköpfe im Bild fest und mache mich dann auf den Heimweg. Gut, dass mein Auto in der Sonne gestanden hat und mich beim Einsteigen wohlige Wärme umfängt.
Es war ein außerordentlich gelungenes Turnier, bei dem die Sanitäter arbeitslos blieben und auch keine einzige Brille von einer Nase geschossen wurde. Viele Hände wurden geschüttelt, reichlich Schultern geklopft und Freundlichkeit, Rücksicht und gegenseitige Achtung waren selbstverständlich.