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Westfalenmeisterschaft 2019

 

Das ist aber ein Zufall“, sagt die eine der beiden freundlichen Frauen hinter dem Campingtisch, lacht und drückt mir zehn Wertmarken in die Hand, „als wenn ich die für Sie abgezählt hätte.“
Ich stecke die Verköstigungs-Währung in die Tasche und verlasse das große Mannschaftszelt, das heute als Kaffee-und-Kuchen-Kantine, als Wechselstube und nicht zuletzt als Schattenspender dient.

Auf dem Kunstrasenplatz zu meiner Linken sind zwei Felder für die „Alten Herren“ abgesteckt, die dort ihre Ü-irgendwas Meisterschaft in zwei Gruppen ausspielen. Die Felder – dem Alter der Beteiligten geschuldet – sind etwa halb so groß wie ein normaler Fußballplatz und auch die kleineren Tore wurden von der Jugend entliehen.

Die kleine, aber überdachte Tribüne wird heute als Ruhe-, Besprechungs- und Regenerationsplatz von den Spielern genutzt. Einfache Menschen, ohne Ambitionen gegen den Ball zu treten – gemeinhin „Zuschauer“ genannt, finden ob der großzügig verteilten Sporttaschen und Handtücher weder Platz auf den wenigen bereitgestellten Gartensesseln noch auf den breiten Betonstufen. Überall fläzen sich nassgeschwitzte Männerkörper und schütten sich schweigend literweise Mineralwasser in und über den meist hochroten Kopf.

Der erhöhte Zuschauerplatz hat ein spiegelgleiches Ebenbild, von wo aus der interessierte Mensch bequem ein zweites Sportfeld und die darauf stattfindenden Aktivitäten betrachten kann. Ebenso wie das gegenüberliegende ist das zweite in zwei kleinere Areale abgeteilt: eines für die in aller Regel schon lange verrenteten Gehfußballer und eines für die fußballernden Frauen, die die – von ihnen selbst so gesehene – ominöse Marke „Dreißig“ bereits überschritten haben. Genauso wie die alten Normalfußballer spielen auch diese beiden Gruppen in – natürlich getrennten – Jeder-gegen-jeden-Runden ihre Westfalenmeisterschaften aus. Dabei begnügen sich die Gehfußballer mit einem Feld, das ungefähr so groß wie ein Handball- oder Hallenhockeyplatz ist[1]. Und weil die morschen Knochen keine spektakulären Paraden mehr vertragen, gibt’s auch keinen Torhüter. Dafür sind die Ziele der Begierde[2] eben kleiner.

Auf dieser Seite der Tribüne geht es vergleichsweise ruhig und gelassen zu, niemand liegt völlig ausgepumpt auf dem Zuschauerbeton, niemand überschüttet sich mit Wasser. Die Frauen haben sich den hinteren Teil der Stufen erobert und an der Nahtstelle zwischen den Geschlechtern ist – oh Wunder – ein ganz natürlicher unbelegter Streifen entstanden, es gibt doch wohl Berührungsängste – von welcher Abteilung lässt sich nicht ausmachen. Ich bin geneigt, die Atmosphäre in diesem Teil der Fußballwelt als gemütlich und entspannt zu bezeichnen, zumal auch die eine oder andere Zigarette danach oder davor geraucht wird – stets aber von männlichen Menschen in blauen, grünen, roten oder schwarzen Trikots, oft mit weißen Haaren aber immer mit noppenbewehrten Sportschuhen.

Wegen dieser Menschen, bei denen die Freude am Spiel, die Gemeinschaft im Vordergrund steht, bin ich heute hier:

„Wir müssen nicht“, sagt einer von ihnen mit schwarzer Kluft und beißt in sein Wurstbrötchen, „wir dürfen können!“

„Und wenn wir auch noch’n Tor mehr als die andern schießen, ist das eben perfekt“, ergänzt ein zweiter – ganz in königsblau – und zieht genussvoll an seiner Zigarette, „Hauptsache is aba, dass keiner von die Rot-Weißen wechgeholt werden muss!“.

„Jau“, sagt der erste, „die Jungs vonner Hundertzwölf brauchen wir hier schomma ganich.“

 

Die Mannschaften wissen erstaunlicherweise immer, welche gerade an der Reihe ist, um sich in einem Neun-Minuten-Spiel mit einer andersfarbigen Auswahl zu messen. Es gibt wohl genau sieben vertrauliche Zettel mit dem Spielplan und von jeder Mannschaft ist einer Geheimnisträger. Ich aber kenne diese ausgesuchten nicht und so frage ich immer wieder die falschen und niemand kann mir Auskunft geben. Der Stadionsprecher scheint nur die alten „Normalfußballer“ zu kennen, deren Ergebnisse er lauthals verliest und deren nächste Spiele er höchst akkurat mit der Angabe von Ort und Zeit vorankündigt. Das gibt es bei den Gemütlichen und auch bei den älteren Mädchen nicht. Aber irgendwie bekomme ich doch heraus, wer gerade spielt. Die Rückseite der Trikots ist da sehr aussagekräftig, denn da verbirgt sich gemeinhin die Vereinszugehörigkeit zwischen all den rührigen Sponsoren, aber die Alten sind hibbelig und drehen und wenden sich fortwährend. Das macht die Sache schwierig. Schalke 04 und den FC Marl habe ich erkannt und noch eine Mannschaft aus Paderborn in grün-weiß...

„Bisschen verwirrend, die Regeln“, sagt einer von der Gegenseite, „man weiß nie, ob die nun gehen oder laufen.“

„Die Schiedsrichter sind heute sehr großzügig“, sagt einer von den schneeweißen Gehern, „da wird das Spiel nicht so zerpfiffen.“

„Aha.“ Der andere ist ein wenig verwirrt. „Aber Regel ist doch Regel“, versucht er einen Einwand und nimmt einen großen Schluck Bier.

„Schon“, sagt der weiße, „aber das sehen wir nicht so eng.“ Dann lässt er den verdutzten stehen und verzieht sich in den Schatten unter dem Tribünendach.

 

Die Männer an der Pfeife, die ohne Assistenten auskommen, passen sich der Geschwindigkeit der Spieler an und bleiben einfach an der – gedachten – Mittellinie stehen. Von da haben sie alles im Blick und auf Ballhöhe müssen sie auch gar nicht sein, denn die Abseitsregel ist zusammen mit den Spielern in Rente gegangen – es gibt sie einfach nicht. Gelegentlich fliegt der Ball über Hüfthöhe, dann pfeift der Unparteiische. Bei den Toren hat er es hier und heute etwas schwerer, da man keine Originaltore aufgestellt hat sondern umgekippte Jugendtore, die mit rot-weißem Flatterband auf ein Meter Höhe begrenzt worden sind. Aber es gibt keine Diskussionen, keine Rudelbildung, wenn der Ball mal im Netz landet und die Höhe des Einschlags nicht mehr rekonstruiert werden kann. Es ist eben alles sehr entspannt.

„Schwache Vorstellung vom Sponsor“, meint einer, „so’n paar Fähnkes aufstellen kann ich auch. Nich ma zwei popelige Tore ham se spendiert! Armselig! Die ham doch Knete genug!“

 

So ein Spiel läuft fast immer nach dem gleichen Muster ab: Die Mannschaften betreten das Feld, stellen sich in Formationen auf, die an langen Winterabenden im Studierzimmer des Trainers entstanden sein müssen und die dem unbedarften Betrachter für immer kryptisch bleiben werden. Wer nun denkt, dass nach dem Anpfiff Bewegung in die Aufstellung kommen könnte, sieht sich getäuscht. Man verharrt und wartet, dass der Ball einen besuchen möge, den man dann nach einem fröhlichen „Hallo“ weiterschickt. Gelegentlich entsteht Bewegung, wenn nämlich einer der verschickten Bälle nicht genau in die Füße des Adressaten läuft. Dann bewegt sich der angespielte doch tatsächlich umgehend, um den Ball vielleicht doch noch zu erreichen und um „Hallo“ zu sagen. Derjenige, der dem gegnerischen Tor am nächsten steht, wird immer versuchen, den Ball dortselbst unterzubringen. Gelingt das, ist der Jubel in den eigenen Reihen groß, gelingt das nicht, schwallt Stöhnen über den Platz und vereinzelte Rufe wie: „Hätteste mich doch angespielt!“ oder „“Passen, Mensch! Passen!“ werden laut.

Die Spielpartner mit den anderen Farben am Körper versuchen hingegen, das lustige Hinundher zu unterbinden und eine eigene Ballstafette einzuleiten. Dazu müssen sie ihre eingenommenen Positionen verlassen und sich gehend dem Objekt der Begierde in den Weg stellen und manchmal gelingt das...

Nach neun Minuten ist alles vorbei und irgendeine Farbe hat gewonnen oder auch nicht. Jedenfalls gehen alle zufrieden vom Feld – die einen, weil sie gewonnen haben und die anderen, weil’s vorbei ist. Nur die Mitglieder der knallroten Brigade machen mir den Eindruck steter Unzufriedenheit: Da werden Mitspieler nach dem Match angegangen, da fallen wirklich hässliche Worte. Man geht sich aus dem Weg und wirft böse Blicke. Und einer dröselt die neun Minuten haarklein auf und nach vielen „Hätte“ und „Wenn“ hätte er das Spiel gewonnen – ganz alleine.

 

Zwischendurch gönne ich mir – außer einer Wurst und einer Cola – ein wenig Frauenfußball und schaue den älteren Mädchen zu. Es ist erstaunlich, welch gepflegten Ball die Frauen mit den wasserblauen Leibchen spielen und welch mutige Paraden die andere Torfrau zeigt. Aber auch bei diesem Turnier ist dem Uneingeweihten nicht klar, wer da eigentlich spielt. Nur ausgiebige Recherche hat dann später ergeben, dass die Frauen der Kreisauswahl Herne Westfalenmeister geworden sind. Wenn das die blauen waren, haben sie den Titel auch verdient.

 

Nach dreieinhalb Stunden habe ich genug.
Genug vom Gehfußball.
Genug von der unbarmherzig brennenden Sonne.
Genug von der Wurst und von Cola.
Genug vom Rumstehen.

Ich habe mir ein Bild gemacht.
Die Bilder sind im Kasten.

 Es war ein rundum gelungener Ausflug.

[1] Spielfeld: 40m · 20m

[2] Tor: 3m · 1m