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Der Strandwanderer strebt, strammen Schritts von Osten kommend, immer am Flutsaum entlang seiner Ferienbehausung zu. Heute hat er die „Accumer Ee“, die Meerenge zwischen Baltrum und Langeoog, nicht ganz erreicht, hat vorher auf Höhe der Ostbake kehrtgemacht, weil ihn fröstelt. Die steife Brise aus West-Nordwest hat ihn bisher vor sich her geschoben und bläst ihm nun übers Wasser entgegen, das – immer noch ausgesprochen kalt in diesem späten Frühjahr – kaum dreizehn Grad erreicht. Nicht einmal die Abgehärteten unter den Unentwegten wagen sich in die trüben Nordseefluten, von planschenden Kindern oder Gelegenheitsbadenden ganz zu schweigen.
Er hätte doch, obwohl die Sonne von fast wolkenlosem Himmel lacht, die lange Hose wählen sollen, aber er wollte unbedingt wenigstens bis zu den Waden durchs Wasser laufen, und deshalb pfeift es jetzt von unten in die flatternde Knielange, die er dummerweise nicht einmal mit einem Band verengen kann.
Es sind nur wenige Unentwegte, die Wind und Kälte trotzen, an diesem herrlichen Vormittag am Strand unterwegs. Eine einzelne Person aber steht – vielleicht zwanzig, dreißig Schritte vom Wasser entfernt – unbeweglich auf der Stelle und schaut aufs Meer hinaus. Das weckt das Interesse des Strandwanderers, hat er doch gerade nichts anderes zu denken oder zu tun. Neugierig geworden, was es denn dort Fesselndes zu sehen gäbe, wendet auch er seinen Blick, während er weiter läuft, nach rechts, auf die offene See hinaus. Er kann nichts Besonderes entdecken, nur die weißen Schaumkronen der vor dem Wind laufenden Wellen, die sich weiter draußen brechen. Das Wasser am Flutsaum, kaum bewegt, wie das bei Ebbe nun mal so ist, läuft schwerfällig ein wenig den Sand hinauf, schiebt träge Blasentang oder anderes, entwurzeltes Unterwassergewächs vor sich her und zieht sich, wie gelangweilt, wieder ein paar Meter zurück oder versickert einfach, einen nass glänzenden Streifen, in dem sich das Blau des Himmels spiegelt, zurücklassend. Aber auch hier ist so gar nichts Außergewöhnliches zu entdecken, nicht einmal Seeschwalben, Möwen oder sonstiges, fliegendes oder schwimmendes Getier.
Was also treibt den unbeweglich stehenden Menschen, aufs Wasser zu starren?
Näher gekommen, erkennt der frierend heimwärts Strebende, dass der erstarrt Ausschau haltende Mensch weiblich ist: Eine auf den ersten Blick aparte, ältere Frau, ausgesucht edel gekleidet – viel zu elegant für einen Strandlauf, findet er.
„Entschuldigung“, spricht sie ihn an, als er nur noch ein paar Schritte entfernt ist, „ich kann mir nicht erklären, warum das Wasser dahinten so braun ist. Können Sie mir da helfen?“
Er nähert sich und stellt zunächst einmal überrascht fest, dass ihm ein überaus zartes Persönchen gegenüber steht, wohl gut einen Kopf kleiner als er. Auf die Entfernung, geht es ihm durch den Kopf, wirkte sie in ihrem weißen, drei Viertel langen, quergestepptem Mantel längst nicht so zerbrechlich.
2
Gedanken über merkwürdige, unangemessene Bekleidung schießen ihm durch den Kopf, aber nur kurz, dann widmet er sich ihrem Anliegen: er geht ein wenig in die Knie und sein Blick folgt ihrem ausgestreckten rechten Arm.
„Ich sehe kein braunes Wasser“, sagt er etwas irritiert, erhebt sich wieder und tritt einen Schritt zurück, damit sie nicht so sehr zu ihm aufschauen muss.
„Doch“, beharrt sie, „dahinten. Es ist doch ganz deutlich zu sehen.“ Und sie zeigt wieder aufs Meer hinaus.
„Werden da vielleicht Algen aufgewühlt und zerschlagen, die dann das Wasser färben?“, fügt sie mit einer leichten Unsicherheit in der Stimme hinzu, wie sie bei Ahnungslosen, die mit einem vermeintlich Wissenden sprechen, manchmal anzutreffen ist.
Er bemüht sich wirklich redlich, irgendetwas zu entdecken, was ihre Behauptung stützen könnte. Und mit einem Mal begreift er, was sie meint.
„Das ist eine Sandbank“, sagt er so vorsichtig wie möglich, denn offensichtlich ist sie noch nie auf einer der friesischen Inseln gewesen, wo Sandbänke zum alltäglichen Bild gehören. Er möchte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als wolle er sie unterweisen oder würde sich gar über sie lustig machen.
„Ach so.“, sagt sie leise, denkt eine Weile nach und haucht dann – mehr fragend als feststellend: „Das ist Sand.“
Sie ist ehrlich erstaunt und nach längerem Schweigen, während dessen sich auf ihrer Stirn deutlich Falten von Zweifel und Unsicherheit zeigen, fragt sie: „Und dahinter ist das Meer?“
„Ja“, antwortet er sanft und bemüht sich, jeden belehrenden oder besserwissenden Unterton aus seiner Stimme fernzuhalten, denn dieses Persönchen ist so zerbrechlich, da will er nichts kaputtmachen. „Sandbänke werden vom Wasser über viele Jahre zusammengeschoben“, fügt er noch hinzu und fragt sich auch sofort, ob das nicht schon zu viel gewesen sein mochte.
In seinem Kopf steht – angestoßen von der einfachen Frage – all das Wissen parat, das er sich bei seinen vielen Aufenthalten an der See erworben hat: Inseln und Sandbänke, ihre Entstehung und ihr Vergehen und noch so allerlei, was damit zusammenhängt. Es wartet nur darauf, losgelassen zu werden und über das Persönchen ausgeschüttet zu werden. Geduldig würde sie zuhören, ihn staunend anschauen und – nichts verstehen.
Er aber behält all das für sich, lächelt nur und schweigt.
„Da habe ich ja den richtigen gefragt.“, sagt sie leise und lächelt ihn an.
„Vielen Dank.“, sagt sie noch und: „Eine Sandbank also.“
Der Wanderer lächelt zurück, verabschiedet sich und geht seiner Wege.
Die kleine, zierliche Frau steht noch lange und schaut aufs Meer und auf das wundersame Gebilde Sandbank.