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Ein Zwischenfall

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„Jetzt sind die Trottoirs schon so breit gemacht worden und doch hat man als Müßiggänger kaum einen Spielraum, sich erholsam zu ergehen. Allenthalben schwirren Beräderte um einen herum, geben Alarmzeichen, schimpfen, wenn man nicht schnell genug ausweicht, und zeigen der fußläufigen Welt ihre Verachtung in unflätigster Weise.“

Kaum hat Schwarzbach seinen Gedanken zu Ende gebracht, rollt auch schon ein Skateboarder von rechts kommend überaus zügig – also mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit – hinter einer Hausecke hervor, verfehlt ihn, der sich in die locker stehende Schar von Wartenden an einer Fußgängerampel eingereiht hat, nur um Haaresbreite (wie Schwarzbach später erzählen wird) und knallt fast ungebremst gegen den Mast eines Verkehrsschilds mit dem freundlichen Hinweis, doch bitte nicht schneller als Dreißig zu fahren. Zur Ehrenrettung des jungen Mannes sei gesagt, dass er der Bitte nicht entsprechen konnte, sah er das runde Blech — wenn überhaupt —doch nur von hinten. 

Sein Board wird von eben jenem stählernen Rohr abgelenkt und macht sich schräg nach oben selbständig, beschreibt dabei eine ziemlich unkonventionelle Flugbahn und prallt an den dicken Mast der Fußgängerampel, wo neben all den anderen Wartenden auch eine Frau mit ihrem Kinderwagen steht. Zum Glück beugt sie sich gerade nach unten, um das Baby zu beruhigen, sonst hätte sie das fliegende Rollenbrett böse verletzt. Aber auch ungetroffen erschrickt sie und lässt sich mit nach vorne ausgestreckten Armen reflexartig auf den Wagen fallen, um ihr Baby zu schützen. Dabei drückt sie mit ihrem Bauch auf den Griff, woraufhin der Wagen, in Ermangelung eines ausreichend schweren Gegengewichts, mit Schwung in eine nicht gewollte Schieflage gerät und mit dem Bügel auf das Pflaster schlägt. Die Frau aber fängt ihren Sturz nach vorne noch gerade so ab, weil sie sich seitlich fallen lässt und neben dem Wagen hinschlägt. Während sie noch fällt, hat der Säugling jetzt freie Flugbahn dem Himmel entgegen, die er auch spontan ausnutzt. Er fliegt, allerdings ohne den obligaten Juchzer und ohne ausgebreitete Ärmchen aus dem Wagen-Aufsatz und landet bei einer fremden Frau in mittlerem Alter weich und wohlbehalten, mitsamt der Zudecke auf deren Brust, was sie mit einem lauten „Huch!“ und das Menschlein mit einem Lächeln quittiert. Sie hat gerade noch Zeit, ihre Arme um den Flug-Körper zu schließen, bevor der Winzling an ihr herunterrutschen kann. Das herangeflogene Baby löst bei der Fängerin den sofortigen Verlust ihrer Standsicherheit aus. Den sie auf die Schnelle auch nicht wieder gewinnen kann und deshalb droht, nach hinten zu stürzen. Schwarzbach, der hinter und ihr zunächst steht, stützt geistesgegenwärtig die beiden Haltlosen.


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Der Skater ist wieder bei Bewusstsein und versucht mühsam, auf die Beine zu kommen. Beim ersten taumelnden Schritt aber stolpert er über die Beine der immer noch am Boden liegenden Kindesmutter und wäre um ein Haar mit dem Kopf voran vom Ampelmast gestoppt worden, hätte nicht ein reaktionsschneller Mann tüchtig und beherzt zugefasst und ihn vor einer weiteren Beschädigung seines Denkapparats bewahrt. 

Der leere Kinderwagen rollt auf die Fahrbahn und zwingt durch bloße, verbotswidrige Anwesenheit einen Radfahrer zu einem riskanten Ausweichmanöver, das seinerseits einen seitlich ein wenig versetzt nachfolgenden Autofahrer zur Vollbremsung zwingt, woraufhin ein Siebeneinhalb-Tonner den fast schon stehenden PKW endgültig auf den Kinderwagen und fast auch noch auf die immer noch liegende Mutter des Flug-Babys schiebt. In Nullkommanichts ist die Kreuzung jetzt in allen Richtungen blockiert, auch weil Schaulustige in gänzlich unbeteiligten Fahrzeugen das tun, wofür man ihnen die Bezeichnung zuerkannt hat: Sich am Unglück anderer sensationsgierig ergötzen und belustigen. 

Jetzt hört man von weitem auch schon die herbeigerufenen Rettungs- und Ordnungskräfte, leicht an ihren Signalhörnern zu unterscheiden, die sich von zwei verschiedenen Seiten nähern. Nur: sie erreichen wegen der spontanen Verstopfung der Verkehrswege ihr Ziel nicht in ihren Einsatzfahrzeugen. Notgedrungen zwängen sich Polizisten und Sanitäter mit ihren Ausrüstungen zu Fuß durch die inzwischen kreuz und quer stehenden Automobile, weil einige der Ungeduldigen versuchen, auch noch durch Rangieren dem Chaos durch scheinbare Lücken zu entkommen und damit den Verkehrsknoten nur noch fester ziehen.

Ein Polizist gibt mithilfe eines Megaphons die Anweisung, alle Motoren abzustellen, im Fahrzeug zu bleiben und Ruhe zu bewahren. Eine Hundertschaft Schwerbewaffneter rückt an, Hubschrauber und Drohnen beobachten die Lage aus der Luft. Bei allen Verantwortlichen schrillen die Alarmglocken, weil wieder einmal ein Lastwagen an einem Unfallchaos beteiligt ist. Der Siebeneinhalb-Tonner wird von Teilen der Hundertschaft mit Waffen im Anschlag umstellt, während die anderen die Lage durch strategische Positionierungen sichern. Spezialisten öffnen die Fahrertür, ziehen den Fahrer heraus, zwingen ihn mit dem Gesicht nach unten zu Boden, legen ihm Handschellen an und bringen ihn mit einem Sichtschutz über dem Kopf weg.

Genauso schnell, wie der Spuk begonnen hat, ist er auch schon wieder zu Ende und die Spezialisten für Verkehrsdelikte übernehmen die Kontrolle.


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Schwarzbach ist sprachlos und erschüttert. Die Frau vor ihm, die er immer noch stützt und die das Baby immer noch gekonnt vor ihrer Brust hält, ist zu sehr mit dem kleinen Wurm beschäftigt, als dass sie Zeit hätte, erschüttert zu sein. Der Aufprall-Erschütterte ist genauso erschüttert wie die Gestürzte bestürzt ist. Der Angeschobene ist verletzt und alle übrigen, hier jetzt nicht genannten, stehen schweigend, haben sich erschrocken die Hand vor den Mund geschlagen und sogar das händische videographische Fixieren dieser absurden Situation vergessen.

Nur der Radfahrer hat in der Zeit des SEK-Einsatzes sein Rad abgestellt, steht nun in seiner lächerlichen Tour-de-France-Montur, die Hände in die Seite gestützt, seinen Helm unter dem Arm und schimpft mit hochrotem Kopf lauthals auf die rücksichtslosen, eigennützigen, arroganten Fußgänger, die ihm mit ihren gemeingefährlichen Säuglingskutschen, deren Handhabung sie nicht einmal beherrschten, auch noch das letzte Quäntchen Freiraum nähmen. Und wenn das der ADFC wüsste, würde man dieser Stadt augenblicklich die „Fahrradfreundlichkeit“ aberkennen. Beschwichtigungsversuche der Staatsmacht, die jetzt wieder Zeit für so etwas hat, scheitern kläglich und so wird der Aufmüpfige kurzerhand als Staatsgewalten-Widerständler festgenommen und abgeführt.

In der Zwischenzeit haben die der Ersten und Zweiten Hilfe Kundigen sich der Traumatisierten an Körper und Seele angenommen. Schwarzbach hat die Fängerin losgelassen. Die hat das Baby losgelassen und an die überglückliche Mutter zurückgegeben, die ihren Tränen nun freien Lauf lässt. Jemand hat dem Skater seinen Untersatz in die Hand gedrückt und Polizisten haben Namen und Adressen der unmittelbar Beteiligten aufgenommen. Oberwachtmeister, der Street-Art mächtig, malen mit unterschiedlichsten Sprühfarben Striche, Kreuze und Kringel auf die Straße und bringen nach einer ausgeklügelten Choreographie den Verkehr wieder zum Laufen.

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Die Ermittlungen gegen den Fahrer des Siebeneinhalb-Tonners werden mit entschuldigendem Achselzucken eine halbe Stunde später eingestellt, der Radfahrer trägt sämtliche Kosten des Auffahrunfalls und anteilig die Kosten des Einsatzes. Und da er keine Versicherung hat, muss er seine Rennmaschine verkaufen und kann jetzt als Fußgänger auf seine ehemaligen Kollegen von der Zweiradfraktion schimpfen. Der Skater kommt mit zwanzig Sozialstunden wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit davon und weil er gut versichert ist und ihm weder grobe Fahrlässigkeit noch Vorsatz nachgewiesen werden können, muss seine Versicherung die restlichen Kosten zahlen, einschließlich der für einen neuen Kinderwagen.

Nur Schwarzbach trifft es wirklich hart und aus heiterem Himmel: Ihm steht eine Anzeige wegen öffentlicher sexueller Belästigung einer Hilfsbedürftigen ins Haus. Nicht, dass die Fängerin ihm das vorwirft, nein, eine gänzlich Unbeteiligte hat für einen Moment die stützenden Hände des alten Mannes gesehen und sich furchtbar darüber aufgeregt:

Sie hätte nicht wahrgenommen, keift sie, dass er, Schwarzbach, die Frau vor ihm um Erlaubnis gebeten hätte, sie anfassen zu dürfen, um ihr den verlorenen Halt wiederzugeben. Schließlich bestünde grundsätzlich eine Verpflichtung seitens des Hilfegewährenden, über Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Aktion aufzuklären. Außerdem hätte er ihr keinerlei Nachweis über eine bestehende Haftpflichtversicherung vorgelegt, die im Falle einer Verletzung der Angefassten durch Verschulden des Versicherungsnehmers eingesprungen wäre, um Regressansprüche der Frau gegen den Helfer zu befriedigen. Und jetzt ginge sie zur Polizei, um Anzeige gegen ihn zu erstatten.

Die Beamten auf der Wache schüttelten nur ihre Köpfe, konnten aber nicht umhin, die Anzeige der verbohrten Frau aufzunehmen.

Drei Monate voller Bangen später erhält Schwarzbach einen Brief von der Staatsanwaltschaft, in dem ihm mitgeteilt wird, dass mangels öffentlichen Interesses kein Verfahren gegen ihn eröffnet würde. Und als er noch einmal in den leeren Umschlag schaut, hört er nicht das Wiehern eines einsamen Amtsschimmels sondern das brüllende Gelächter einer ganzen Behörde.