1
„Benjamin!“
„Ja, Mama?“
„Benjamin, was machst du da? Komm her!“
„Mama, ich hab’ mein Kaugummi verloren.“ Die Stimme des kleinen Jungen von vielleicht sechs oder sieben Jahren klingt ein wenig schuldbewusst, vor allem aber hilflos und verzweifelt. Er sucht, den Kopf nach vorn gestreckt und den Nacken gebeugt, mit den Augen den breiten, ungepflasterten Weg ab, der, durch die klare Wintersonne gewärmt, den Frost der letzten Nacht verloren hat und nun doch recht matschig geworden ist. In der ursprünglich vielleicht einmal roten Asche liegen verstreut auch kleine, helle, fast weiße Kiesel und graue Splitter vom gestampften Ausbesserungsschotter. Das macht die Suche nach dem verlorenen Kaugummi, offenbar gebraucht und bereits zu einem unansehnlichen Klumpen gekaut, nicht gerade einfacher.
„Benjamin, du suchst doch nicht etwa danach?“
„Doch, ich such’ mein Kaugummi!“ Der Knabe hat offensichtlich eine ziemlich klare Vorstellung von der Stelle, wo er das gute Stück Kieferbeschäftigung verloren haben könnte, denn seine Anstrengungen beschränken sich auf einen kleinen, sehr überschaubaren Radius. Und tatsächlich bückt er sich einem Moment später und hebt mit spitzen Fingern etwas Kleines auf.
„Mama, ich hab’s gefunden.“ Benjamin trägt den verdreckten, kaum daumennagelgroßen, grau-weißen Brocken wie eine Trophäe vor sich her, seine rechte Hand flach ausgestreckt und läuft damit zu seiner Mutter. Die meint, ihren Sprössling nun unter Kontrolle zu haben und spaziert ein paar Schritte weiter. Freude und Zufriedenheit schwingen jetzt in Benjamins Stimme mit.
„Benjamin, du wirst das doch nicht in den Mund stecken wollen!“
„Doch, ist doch kaum Dreck dran, hier, schau mal. Ich kann’s ja sauber kauen und dann den Schmutz einfach ausspucken.
„Ich glaube, dein Helm brennt!“, ruft die Mutter erschrocken, „wenn dir ein Gummibärchen ins Klo fällt, holst du es natürlich auch raus, kaust es sauber und isst es auf?“ Sie macht eine kurze Wirkungspause.
„Benjamin!“
2
Des Knaben Vorname schwebt als Wort gewordene Anklage über dem Bedauernswerten und er erschrickt: So ein fieser Dreck liegt hier auf den Wegen?
„Ich lach mich schlapp“, schlägt sich die große Schwester, die sich die ganze Zeit nicht zu Wort gemeldet hat, auf Mutters Seite. „Der Benni isst Gummibärchen aus’m Klo!“
„Sandra! Bitte!“ Die Mutter erhebt leicht ihre Stimme. „Gib her, Benni, damit du bloß nicht in Versuchung gerätst.“
Benjamin aber schleudert mit einem wütenden Blick auf seine Schwester das wertvolle Stück in seiner Hand in hohem Bogen ins Gebüsch.
Die ganze Zeit steht ein Mann mit einem vor seinen Bauch gebundenen Kleinstkind zuerst nahebei, wippt in den Knien auf und ab, entfernt sich ein paar Schritte, bleibt wieder stehen, wippt und schaut gelegentlich zu den drei anderen hinüber, unbeteiligt, ja fast desinteressiert. Trotzdem ist sich der Beobachter sicher, dass der Babyträger als Familienmitglied dazu gehört.
Während das Leiden des jungen B. mit einem zornig beherzten Wurf beendet wird, steht der Mann, nennen wir ihn der Einfachheit halber Vater, inzwischen vor dem Gittertor des kleinen Tierparks, vielleicht fünfundzwanzig, dreißig Schritte von den drei anderen entfernt.
„Im Winterhalbjahr von neun bis halb fünf geöffnet“, hört man ihn vorlesen, den Kopf des kleinen Menschleins vor seinem Bauch zärtlich haltend, „letzter Einlass: Fünfzehn Minuten vor Tierparkschließung.“
Er drückt dem Baby einen Kuss auf die Stirn: „Schade, da können wir nichts machen, wir kommen nicht mehr rein, es ist schon zu spät.“
Dann wippt er mit einem leichten Lächeln um die Lippen wieder in den Knien.
Es ist halb vier.
Benjamin führt seine linke Hand zum Mund und lässt etwas darin verschwinden. Zufriedenheit breitet sich auf seinem Gesicht aus, die Augen leuchten. Er beginnt zu kauen und in einem unbemerkten Augenblick tritt er beiseite, spuckt aus und kaut weiter, aber jetzt knirscht es eben nicht mehr zwischen den Zähnen.