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Haardexpress

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Lesezeit ca. 15 - 17 Minuten

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Der Schnellzug aus der Hauptstadt hat mich pünktlich nach Essen gebracht. Ich bin treppab, durch den Osttunnel und wieder treppauf zu den beiden etwas versteckt liegenden und schwer erreichbaren Kopfgleisen, die ausschließlich dem S-Bahn-Verkehr in östlicher und nördlicher Richtung vorbehalten sind, gelaufen. Hier warte ich nun auf meinen Anschlusszug, der mich nach Recklinghausen zu Weib und Kindern bringen soll.

 

Menschen jeden Alters und verschiedenster kultureller Zugehörigkeit bevölkern den Bahnsteig an Gleis 21. Der Haardexpress nach Münster hat laut Ankündigung heute vierzig Minuten Verspätung. Aber darüber regt sich offenkundig hier niemand mehr so richtig auf, obwohl alle nur noch nach Hause wollen und ihren Feierabend genießen. Es ist auch einfach zu heiß, um sich – egal worüber – zu entrüsten.

Viele Menschen stehen allein oder in kleinen Grüppchen herum und verbringen ihre kostbare arbeitsfreie Zeit mit Warten. Die wenigen Sitzbänke sind bis auf eine voll besetzt. Auf eben dieser einen sitzt alleine ganz am Rand ein junger, schwarzhaariger, bärtiger Mann, aus dessen Smartphone recht laut und vernehmlich eine männliche Stimme spricht. Klar und deutlich sind Worte oder Sätze zu vernehmen, aber ob ihrer kehligen Fremdartigkeit – mit einiger Phantasie könnte man Arabisch vermuten – bleiben sie für den unfreiwilligen Mithörer unverständlich. Der Besitzer des Gerätes richtet seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Worte, die aus dem winzigen Lautsprecher tönen und scheint seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen.

Ich mache mir keine Gedanken, warum denn ausgerechnet diese Bank so frei und einladend dasteht, ich habe einfach keine Lust, herumzustehen und setze mich neben den Bärtigen und vergesse dabei wohl aus Gedankenlosigkeit und nicht aus Unhöflichkeit die übliche Frage zu stellen: „Ist hier noch frei?“

Als ich mich setze, schaut er eine Sekunde auf, und freundliche, warme Augen schauen mich an, keine Musterung, kein Abschätzen, kein Einordnen in eine Schublade, nur ein Blickkontakt zwischen zwei Menschen, nicht mehr aber auch nicht weniger. Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht, kaum zu erkennen bei all den Haaren. Ich nicke in seine Richtung, schaue ihn an und lächle zurück: zwei Männer haben festgestellt, dass der andere keine Gefahr darstellt, aber dass man sich im Moment nichts zu sagen hat. Und damit ist es auch gut.

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Er wendet sich wieder der Stimme zu, sitzt noch zwei, drei Minuten, ist wieder voll bei der Sache, steht dann aber abrupt auf und geht grußlos in Richtung Tunneltreppe davon, das immer noch laut tönende Handy wie einen Schatz vor sich her tragend.

Schade, ich hätte doch zu gern gewusst, was er sich da angehört hat. So aber bleibt Raum für Spekulation und Spinnerei, aber er hat wenigstens keinen Koffer und keine Reisetasche vergessen, vor denen man sich doch so sehr in Acht nehmen soll.

Kaum ist der Fremde verschwunden, füllt sich die Bank, auf der jetzt ich alleine sitze, mit zügig herbeieilenden bisher stehend Wartenden.

„Aha“, denke ich, „schämt euch. Wir sind hier im Pott, da hat man Fremde immer schon in die Mitte genommen und ihretwegen keinerlei Aufhebens gemacht.“ Und als ich mir meine neuen Sitznachbarn, von denen auch keiner gefragt hat, ob denn noch frei sei, so anschaue, sind das alles auch keine Hiesigen mit westfälischem Stammbaum bis ins achtzehnte Glied: eine junge, dezent geschminkte Frau mit Kopftuch und in einem langen Mantel, die ihr Baby in einem eleganten, sehr teuer aussehenden Kinderwagen vor sich abgestellt hat, ein alter anatolischer Mann mit seinen zwei Enkeln und den unvermeidlichen Plastiktüten, eine modisch und unaufdringlich gekleidete dunkelhäutige Schönheit, die in akzentfreiem Deutsch mit ihrem Handy spricht. Und zwei überreichlich herausgeputzte, mittel­alte Frauen, die unüberhörbar russisch oder ukrainisch oder sonst irgendwie mittelöstlich, durchsetzt von vereinzelten deutsch klingenden Namen, sprechen.

„Warum haben die sich nicht vorher schon hierher gesetzt?“, frage ich mich, „der junge Mann hatte doch nichts Abstoßendes an sich und auch niemanden erschreckt. Oder bin ich einfach zu naiv?“

Ich entscheide mich für die Antwort „ahnungslos“, wünsche mir aber für den Fall, dass Überfüllung oder Gedränge droht, einen Schwarzbärtigen zur Begleitung, oder ich lade mir einen elektronischen Imam auf mein Handy, der den Koran auf Arabisch vorträgt, färbe Haupthaar und Bart schwarz und setze eine Takke auf, dann macht man mir überall Platz.

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Die Regionalbahn aus Münster (in Westfalen) mit dem schönen aber irreführenden Namen „Haardexpress“ läuft ein, die Türen gleiten auf, reichlich mitgenommen aussehende Menschen quellen aus den Wagons und strömen hastig dem einzigen Treppenabgang zu.

In fünfzehn Minuten soll dieser Zug in Gegenrichtung wieder abfahren. Die Wartenden rühren sich noch nicht, schließlich ist keine Eile geboten und lassen die schimpfenden Aus­steigenden achtlos vorübergehen. Doch dann, wie auf ein geheimes Zeichen, leert sich der Bahnsteig ziemlich schnell und erstaunlich geordnet und ruckzuck sind beide Hälften des Doppelzuges gut gefüllt. Alles scheint seinen erwarteten Gang zu nehmen, sogar die Klimaanlage funktioniert und die Reisenden könnten sich entspannen, wenn da nicht diese genervte Stimme aus den Zuglautsprechern plärren würde:

„Achtung! Achten Sie auf meine Durchsage!“ Der Sprecher macht eine bedeutsame Pause. „Steigen Sie bitte aus dem hinteren Teil des Zuges in den vorderen um. Der hintere ist defekt und wird abgekoppelt.“

Die Reisenden schauen sich verwundert an, rühren sich aber nicht von ihren Plätzen, denn um der Anweisung Folge leisten zu können, müsste man wissen, welches der vordere Teil ist. Das ist aber nicht so einfach zu entscheiden, denn dieser Zug hat keine Lokomotive im herkömmlichen Sinn. Das Ende, an dessen Spitze der Zugführer sitzt wird wohl das vordere sein. Nur, wo sitzt er? Und es könnte ja auch möglich sein, dass der Zug, wie es bei der Bahn manchmal vorkommt, die ganze Strecke rückwärtsfährt, also geschoben und nicht gezogen wird und damit würde aus dem Zug ein Schub. Also bleiben alle erst einmal gelassen und verharren gespannt in Erwartung einer von außen über sie hereinbrechenden Lösung des Problems.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen den hinteren Teil verlassen!“, krächzt es nach ein paar Minuten aus den übersteuerten Lautsprechern, weil der Ansager sich aufregt und seine Stimme für die Automatik viel zu laut ist. „Ich werde nicht losfahren, bis Sie den Zug verlassen haben.“

Durch die Fenster kann ich beobachten, wie aus der anderen Doppelzughälfte Menschen herausströmen und unschlüssig auf dem Bahnsteig herumstehen. Nur aus unserem Wagon steigt niemand aus.

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„Verlassen Sie alle meinen Zug! Sofort!“, schreit der offensichtlich mit der Lage überforderte Bahnmensch, „Und mit ‚Alle‘ meine ich auch alle. Und wenn Sie das nicht begreifen, stelle ich diesen Zug jetzt hier ab, dann fährt der heute eben nicht mehr!“

 „Gezz isser aba beleidigt!“, sagt einer der beengt Stehenden rechts vor mir und lacht, „Dat ham wa gezz davon!“

Der gut gemeinte Witz kommt überhaupt nicht an, denn langsam nervt die Situation.

„Die Scheißtür geht nicht auf!“

Erst jetzt wird deutlich, dass sich tatsächlich jemand schon die ganze Zeit an der Tür zu schaffen gemacht und versucht hat, sie zu öffnen. Er drückt weiter und weiter auf den Automatikknopf, aber nichts geschieht.

„Das Scheißding geht einfach nicht auf!“

Jetzt redet man doch wild durcheinander, vereinzelt werden Flüche laut und mehr oder weniger ernst gemeinte Vorschläge, die Lage zu entspannen machen die Runde, über die dann herzhaft gelacht wird, denn lebensbedrohlich ist die Lage nun wirklich nicht.

Schließlich fasst sich ein junger Mann in kurzen Hosen, dessen Muskeln an Oberkörper und Oberarmen auf den regelmäßigen Besuch einer Körperbildungsanstalt schließen lassen, ein Herz und schlägt mit dem Ellenbogen die Glasscheibe des Kästchens mit der Aufschrift „Tür-Not-Öffnung“ ein. Dann drückt er den freiliegenden Knopf und oh Wunder, die Tür gleitet auf. Vereinzelt ist Klatschen zu hören, was dann wieder lautes Gelächter auslöst. Und so verlassen wir – sehr zur Verwunderung der Umher­stehenden – äußerst heiter unseren nach dieser „Rettungsaktion“ garantiert defekten Wagen.

„Ein Ersatzzug steht auf Gleis 2 bereit und fährt um sechzehn Uhr achtzehn.“, schallt es kurz darauf aus den Bahnsteiglautsprechern.

Ich schaue auf die Bahnhofsuhr, das sind gerade einmal drei Minuten und in dieser Zeit soll ich von Gleis 21 nach Gleis 2? Die anderen Reisenden setzen sich aber erstaunlich gemächlich in Bewegung und ich folge ihnen einfach, denn sie werden wissen, was sie tun. Treppe runter, durch den Tunnel und an Gleis 2 wieder hoch, alles mit meiner schweren Reisetasche und dem prall gefüllten Rucksack und dabei die Angst im Nacken, den Ersatzzug zu verpassen und in dieser Augusthitze noch länger auf einem der Bahnsteige herumstehen zu müssen.

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Oben angekommen, bin ich nach diesen doch eher kurzen hundertfünfzig Metern – im Hauptbahnhof Essen liegen die Gleise 1 und 2 direkt neben Gleis 21 – weniger aus der Puste als befürchtet und zwänge mich in den völlig überfüllten Zug, der eigentlich kein Ersatz für den defekten ist, sondern der reguläre RE42 von Mönchengladbach nach Münster.

Geschlagene zwanzig Minuten warten wir noch und weil alle nach dem Bahnsteigwechsel ordentlich Feuchtigkeit ausdünsten und die Klimaanlage in diesem Zug offensichtlich in Urlaub gegangen ist, entwickeln sich die Wagons langsam aber stetig in eine Sauna, heute mal gemischt und nur mit Stehplätzen, dafür aber ohne Aufguss.

Schließlich erhält der Zug seine Freigabe vom Tower. Es ist sechzehn Uhr achtunddreißig als sich der Regionalexpress in Bewegung setzt und die Stimmung unter den Besuchern der rollenden Schwitzbude reicht von christlicher Schicksalsergebenheit bis hin zu wütenden Verbal­protesten gegen die Bahn und ihre Unfähigkeit.

In Gelsenkirchen quetscht sich ein Mensch, der aussieht wie ein smarter Banker mit viel zu engen, viel zu bunten und viel zu kurzen Hosen zusammen mit seinem Renn-Untersatz und einem lächerlichen Helm ziemlich rücksichtslos in unseren Wagen und drückt uns, die wir ohnehin kaum Platz haben, im Einstiegsbereich noch weiter zusammen.

„Hömma, Männeken, dat muss aba nich sein“, raunzt einer den Drängler an, „kannze nich waten, bis ‘n leerer Zuch kommt, du siehs doch: is kein Platz!“

Zustimmendes Gemurmel allerorten.

„Hören Sie, ich muss doch bloß bis Wanne. Fünf Minuten. Ist doch gar nichts. Regen Sie sich doch nicht so auf.“

„Dat Stücksken häzze ja auch mit dein Rad fahren können. Tut gut, anne frische Luft und du siehs ja auch aus, als ob du dat locker schaffen täts.“

Der junge Mann antwortet nicht und die Lage beruhigt sich zwangsläufig, da uns einfach die Luft zum Atmen fehlt und lautes Geschimpfe zu Atemnot und Sauerstoffunterversorgung eines wichtigen Organs führen könnte.

In Wanne-Eickel verschwindet der Pedalist wie angekündigt wieder, niemand steigt bei uns ein und wir genießen den kurzen Moment unverbrauchter, etwas weniger heißer Luft, die durch die geöffnete Tür einströmt.

 

Ich schließe meine Augen und träume davon, den Bärtigen mit seinem arabisch sprechenden Smartphone an meiner Seite zu haben.

Noch sieben Minuten.