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Milly

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Milly ist eine unersetzbare Haushaltshilfe. Wir wissen schon gar nicht mehr, wie wir an sie geraten sind. Empfehlung kann es nicht gewesen sein, denn niemand aus dem Kreis unserer Verwandten oder Freunde beschäftigte damals, als sie zu uns kam, schon eine Hilfe fürs Grobe. Inzwischen ist sie, genauso wie wir, in die Jahre gekommen, aber vielleicht macht das ja gerade ihre Zuverlässigkeit und ihre Genügsamkeit aus. Mit stoischer Gelassenheit erledigt sie ihre Arbeit mit enormer Geschwindigkeit, die man heute so nicht mehr erwarten darf, denn sie wurde in eine Zeit hineingeboren, als man einfach ein Bütterchen mehr aß, um genügend Kraft und Ausdauer zu haben. Man hört sie nicht, sie meckert nicht und hat auch noch nie einen Urlaubsantrag gestellt. Überhaupt redet sie sehr wenig und wenn man es genau nimmt, haben wir noch nie ein Wort von ihr gehört, obwohl sie nicht stumm ist.

Sie ist eben da, wenn sie gebraucht wird und verrichtet, wann immer es erforderlich ist, ohne zu klagen ihren Dienst. Ihre Eltern stammen aus einer ostwestfälischen Dynastie, die ihren Abkömmlingen durchaus „Ich dien“ als Lebensmotto hätten mitgeben können. Haben sie aber nicht. Der elterliche Wahlspruch lautet gänzlich anders und würde – hier erwähnt – so gar nicht in die Geschichte passen. Egal. Diese bodenständigen Leute aus Gütersloh haben ihre Kinder schon immer zu wertvollen und unverzichtbaren Mitgliedern eines jeden Haushalts erzogen, die sich für keine Arbeit zu schade sind – vorausgesetzt, sie wurden dafür von erfahrenen Meistern ihres Faches ausgebildet.

Millys Arbeitsplatz ist unsere Küche, wo sie mit Hingabe für uns Geschirr, Gläser und Besteck reinigt, trocknet und zum Glänzen bringt. Töpfe vertrauen wir ihr nicht mehr an, die säubern wir selber, weil wir ihr das schwere Heben und das kraftraubende Scheuern ersparen wollen. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig ist, geben wir ihr stets eine angemessen lange Pause. Sie kann dann ihre Arme, die selbst in ihrem hohen Alter immer noch erstaunlich beweglich sind, zur Ruhe kommen lassen und ich habe noch nie jemanden gesehen, der nach anstrengender Tätigkeit einen so glänzenden Eindruck macht, wie sie.

 

Einmal, vor etwa fünf Jahren, meinten wir, Milly sei krank, denn was immer wir ihr auch zum Saubermachen gaben, sie präsentierte es uns genauso schmutzig wie zu Beginn der Reinigung. Der Doktor musste in Haus kommen, denn Milly ist ausgesprochen schlecht zu Fuß. Jeder Ortswechsel will gut bedacht sein und sollte unbedingt vermieden werden, wenn es nur irgendeine andere Möglichkeit gibt.

Wir machten uns ernsthaft Sorgen.

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„Nicht so schlimm.“, sagte der Doktor, nachdem wir Millys Verhalten ausführlich geschildert hatten, „Ich glaube ich weiß schon, was ihr fehlt.“ und deutete mit dem matt glänzenden Spezialistenbesteck in seiner rechten Hand auf sie, wie sie so halb ausgezogen dastand, angelehnt an die Wand zwischen Herd und Kühlschrank, „Sie muss wesentlich mehr trinken! Darauf hätten Sie achten sollen. Sie hat weiter nichts, ihr geht’s sonst sehr gut.“

Dann tauschte er die Zapfstelle aus, über die Milly ihren Bedarf an Wasser aus dem öffentlichen Netz deckt und – wie vorhergesagt – verrichtete sie ab da ohne jegliche Beanstandung wieder ihren Dienst.

„Passen Sie gut auf sie auf.“, sagte er noch, als er ging, „So ein feines Stück, so zuverlässig und schnell, gibt’s heute nicht mehr, noch nicht einmal aus Ostwestfalen.“

 

 

Den Namen „Milly“ habe ich ihr nur für diese kleine Geschichte gegeben, denn mit richtigem Namen heißt sie 14/16110137. In unserer Familie geben wir nämlich Geräten, Apparaturen oder Maschinen grundsätzlich keine Namen, mit Ausnahme aller meiner Autos seit fünfzig Jahren. Die nenne ich seit jeher „Bölles“. Warum, weiß ich auch nicht mehr.

Und wo kämen wir denn da hin, wenn wir alle Gebrauchsgegenstände oder Werkzeuge nach ihrer Funktion oder ihrem Hersteller benennen würden: Die Bohrmaschine Bohrix, Böschlein oder Metábolus? Den Staubsauger Herr Saugner? Den Trockner – bei uns übrigens ein Cousin von Milly – Aridus? Das Klavier Fury (wegen des Herstellers)? Nein. Nein. Und nochmals nein! Das wollen wir nicht und ich habe mir ganz schön einen abgebrochen, diese Namen hier überhaupt zu erfinden.

 

14/16110137 G 582 SC alias Milly wurde am 28. September 1992 geboren und kam kurz danach, eine Woche nach dem dritten Geburtstag unserer zweiten Tochter, in die Familie und jetzt, nach all den Jahren und dem Versuch, sie für diese Geschichte zu personifizieren, könnte ich mich sogar an den Gedanken gewöhnen, sie weiterhin Milly zu nennen und sogar gelegentlich mit ihr zu sprechen. Sie hat es sich verdient.

Wir hoffen, dass sie noch lange bei uns bleibt. Wir brauchen sie.