1
Der Hai, wie Kriminalrat Paul Sedlaczek hinter vorgehaltener Hand genannt wird, hat seinen Kragen hochgestellt und hält ihn mit der linken Hand zusammen.
„Wo ist die Leiche?“, knurrt er, um dann lauter zu fragen: „Gibt es vielleicht irgendwo einen Regenschirm? Wenn ich noch lange hier stehe, laufe ich ein oder hole mir eine Lungenentzündung.“
Ein Beamter reicht ihm eine Regenhaut mit Kapuze: „Schirme haben wir nicht, Herr Kriminalrat. Tut mir leid, und die Leiche liegt da vorne.“ Er deutet mit ausgestrecktem Arm auf ein paar übermannshohe Rhododendron-Büsche, „Da konnten wir kein Ermittlungszelt drüber stellen. Sie verstehen?“
Sedlaczek entledigt sich seines Trenchcoats, steht jetzt ohne jeden Schutz da und quält sich umständlich in das Ölzeug. Er rollt den nassen Mantel zusammen und drückt ihn dem Hilfsbereiten wortlos in die Hand. Dann macht er ein paar Schritte auf das gedachte Zentrum des vorzüglich organisierten Hin und Her von Menschen zu, die in weißen Ganzkörper-Schutzanzügen ziemlich sinnfrei herumwuseln. „Ja sieh einer an, schön versteckt.“, murmelt er und nähert sich dem gewaltigen Rhododendron.
„Gottfried? Wo bist du? Ich seh‘ dich nicht.“ Er schüttelt den Kopf. „Hast du schon was? … Sprich mit mir!“
Van Osten, der Mediziner, ist noch mit der Leiche, die tief im Inneren des Busches liegt, beschäftigt und der Rat zieht die Augenbrauen ein wenig nach oben, als es aus dem Laubwerk zu ihm spricht:
„Männlich. Weiß. Zweiundvierzig. Gepflegt aber nicht ganz vollständig. Kein Alkohol, so wie es aussieht. Geld und Papiere wurden gefunden.“ Der Mann zur Stimme schält sich aus dem Rhododendron: „Schluck Kaffee, Paul?“
„Ja gerne.“, sagt Der Hai. Der Doktor geht zu seiner Tasche, um aus einer Thermoskanne Kaffee einzuschenken. Sedlaczek hält seine Hände schützend über den Becher, damit es nicht hineinregnet.
„Wer hat ihn gefunden?“, fragt der Kriminalrat. Er nimmt einen Schluck und entsorgt angewidert das Gebräu aus Mund und Becher in die Landschaft, „Nee, der ist ja eiskalt! Gottfried, du Banause, wie kannst du mir sowas anbieten?“
„Von Kaffee, dem starken, kalten, wird dein Leben lang erhalten!“, lacht der Doktor, den alle respektvoll wegen seiner flinken, kunstfertigen Finger und seines scharfen Verstandes Snipping Brain nennen. „Da drüben sitzt sie bei den Rot-Weißen. Sie hat, nach allem, was wir wissen, die Polizei gerufen. Ist noch ganz fertig … Der Kollege aus der Abteilung ‚Leben‘ hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.“, sagt er und deutet mit dem Kopf auf den Rettungswagen.
2
„Was sind das für Leute? Ich sehe nicht einen, der fotografiert. Warum zum Teufel stehen die bei dieser Sintflut hier noch freiwillig rum? Nur glotzen ist ja heute nicht mehr genug.“
Der Hai winkt einen der Putzerfische in Uniform herbei und deutet auf die kleine Gruppe von Menschen, die am Rande der großen Grünfläche auf einem breiten Parkweg aus roter Asche stehen: „Hey Kollege, nehmen Sie die Namen und Adressen von denen da drüben auf und dann erteilen Sie ein Platzverbot!“ Der Obermeister für Sicherheit und Ordnung macht sich diensteifrig an die Arbeit.
Der Rat aber wendet sich wieder Gottfried zu: „Wie lange ist er schon tot?“
„So etwa drei Stunden.“
„Woran ist er gestorben? Selbstmord? Fremdeinwirkung? Stumpfe Gewalt?“
Der Doktor schüttelt den Kopf.
„Nein? Nichts davon?“
„Ich weiß es einfach nicht. Du musst schon unter den Busch kriechen, dann siehst du es. Extrem scharfe Schere, denke ich. Tod durch Blutverlust. Ich habe eben schon gesagt ‚nicht ganz vollständig‘, aber du hörst mir einfach nicht mit dem nötigen Ernst zu.“
Sedlaczek teilt das Blattwerk so gut es geht mit den Händen und schiebt sich neben der Leiche in den Rhododendron: „Das glaube ich jetzt nicht … Das erinnert mich an … an … Mir fällt es nicht ein! … Abwehrspuren?“
„Nein … Aber jetzt, wo du das sagst … Dieser alte Film? … Im Reiche der Sinne?“
„Genau. Es sieht doch auch fast so aus: Nackt, ein glückseliges Lächeln im Gesicht und unvollständige Anatomie. Nur der Ort stimmt nicht. Und wo ist seine Männlichkeit abgeblieben? Hat schon einer danach gesucht?“
„Ja, aber wir haben nichts gefunden.“
Plötzlich rennt Der Hai hinter dem Putzerfisch, den er mit der Räumung beauftragt hat, her und ruft: „Halt! Keiner verlässt seinen Platz! Alle Kollegen zu mir!“
„Aha.“, denkt der Pathologe, „Er hat eine seiner berühmt, berüchtigten Eingebungen. Nur, wie sollen sie zu ihm kommen ohne ihren Platz zu verlassen?“ Er schüttelt den Kopf. „Soll nicht mein Problem sein. Für solche Anweisungen braucht man die höheren Weihen eines Kriminalrates.“
3
„Durchsuchen Sie alle Herumstehenden gleichzeitig“, sagt Sedlaczek halblaut, „und auch die weggetretene Frau da vorne, da kann der Notarzt machen, was er will. Sollten Sie ein Messer, eine Gartenschere oder einen Penis finden, ist der- oder diejenige sofort zu verhaften … Das mit dem Penis gilt nicht für Exemplare, die ordnungsgemäß angewachsen sind.“
Die Beamten schauen sich an, lachen verstohlen aber machen sich an die Arbeit. Sie haben kaum begonnen, ruft auch schon einer von ihnen: „Ich hab hier was!“
Der Kriminalrat eilt zu dem fündig gewordenen Kollegen: „Was haben wir denn?“
„Eine Art Gartenschere, Herr Kriminalrat. Bei dieser Frau in der Handtasche. Mit Blut daran.“
Sedlaczek schaut sich das Werkzeug an: „Aha, japanisch, aus der Schmiede von Meister Shiraki und Meister Morimoto aus Sakai.“ Er schüttelt den Kopf. „Ganz seltenes Einzelstück.“ Der findige Putzerfisch staunt, was Der Hai alles weiß. „Belehren und abführen. Die Schere samt Tasche zur KTU. Ihre Hände in Tüten und zubinden.“
Und als hier noch die Handschellen klicken, ertönt wieder der Ruf: „Fund!“ Eine Beamtin steht neben der traumatisierten Frau im Rettungswagen.
„Ihr Rock ist an der Rückseite im Bereich des Gesäßes voller Blut, Herr Rat.“
„Rock und Unterhose zur KTU, belehren und aufs Präsidium.“
„Äh … Verzeihung Herr Rat, die Frau halbnackt aufs Revier?“
„Trainings- oder KTU-Anzug, egal! Ziehen Sie ihr irgendwas an. Mitdenken, Frau Kollegin, mitdenken!“ Er schüttelt den Kopf. Wieder einmal.
Snipping Brain ist mittlerweile mit all seinen Vor-Ort-Untersuchungen fertig und steht jetzt neben Sedlaczek: „Kann die Leiche jetzt weg?“, fragt er.
„Ja“, sagt der Chef, „und hol dir eine Gynäkologin dazu, damit die Frau mit dem blutigen Rock, gründlich und überall – also innen und außen – untersucht wird. Ich glaube, die versteckt etwas.“
Van Osten schaut zweifelnd, aber Sedlaczek nickt nur sehr langsam mit geschlossenen Augen und vorgestülpten Lippen, wissend eben. Dann geht er zu seinem Wagen, zieht sich mühsam das Ölzeug aus, verstaut es im Kofferraum und fährt ins Präsidium. Die restliche Arbeit vor Ort soll Schneider, sein Oberlehrling übernehmen. Er, Der Hai hat die beiden Täterinnen gefunden. Überführung und gerichtsfestes Geständnis sollten kein Problem mehr sein, ob die Schaulustigen etwas gesehen haben oder nicht. Die Gynäkologin würde die verschollene Männlichkeit schon finden, da ist er sich sicher, wie er sich immer sicher war, wenn er seiner Eingebung folgte.
4
Zwei Stunden später sitzen die beiden Frauen dem Kriminalrat, der die schriftlichen Ergebnisse der forensischen Untersuchungen vor sich liegen hat, im Verhörraum gegenüber. Schneider und der Staatsanwalt stehen hinter der Scheibe und beobachten das Verhör.
„Frau Neymann, warum haben Sie zum Ableben des Herrn Hartberg beigetragen?“
„Kühne Frage.“, sagt der Staatsanwalt zum Oberlehrling, „Einfach so, geradeheraus, die Verdächtigen vor vollendete Tatsachen stellen. Sehr kühn.“
„Das hätte ich mich nie getraut.“, flüstert Schneider.
„Darum sind Sie ja auch der Lehrling …“
„Oberkommissar Schneider. Bitte.“
„Ach wissen Sie“, sagt die Angesprochene, „Robert war krank, sehr krank.“ Sie schluchzt. „Er hatte nur noch wenig Zeit und unsere wundervolle Ménage-à-trois würde so banal zu Ende gehen, in einem Allerweltskrankenhaus, zwischen weißen Laken und von unserem geliebten Robert wäre vor lauter Schläuchen nichts mehr zu sehen gewesen … Das wollte Robert nicht und so beschlossen wir drei, dass es ein letztes Mal geben sollte und Robert wünschte sich nichts sehnlicher als im Moment der allerhöchsten … “, sie schluchzt heftig, „der allerhöchsten Lust zu sterben.“
„Ja“, sagt Eva, die Frau im Polizei-Trainingsanzug, „wir wollten ihm diesen Wunsch erfüllen, egal, was mit uns geschehen würde … Und wir würden es wieder tun, nicht wahr Carla?“
„Ja, das würden wir.“
Es entsteht eine Pause. Die beiden Frauen weinen und Paul Sedlaczek lässt sie gewähren. Aber er will, um seinem Verständnis von Polizeiarbeit gerecht zu werden, auch Entlastendes beibringen:
„Wer von Ihnen hat den finalen Schnitt ausgeführt?“
„Robert.“, sagt Carla, „Er wollte es so. Es war seine Entscheidung. Eva und ich hätten das niemals gekonnt.“ Eva schüttelt zur Bestätigung den Kopf und wieder fließen Tränen.
„Gibt es ein Dokument, in dem dieser letzte Wunsch des Herrn Hartberg festgehalten wurde?“, fragt der Rat, „Das könnte sehr hilfreich für Sie beiden sein.“
„Ja …“, sagt Eva, „Ja, er hat es bei seinem Anwalt hinterlegt. Er hat alles aufgeschrieben.“
Und beide Frauen brechen in Tränen aus.
„Schneider, kümmern Sie sich darum.“, flüstert der Staatsanwalt, obwohl ihn auf der anderen Seite der Scheibe niemand hören kann. „Los jetzt!“
5
„Gut.“, sagt der Kriminalrat und reicht den beiden Frauen Taschentücher, „Ich bitte jetzt den Staatsanwalt herein, der wird alles weitere mit Ihnen besprechen. Nur eins noch: Warum in diesem Rhododendron?“
„Wir wissen es nicht, es war Roberts Wunsch. Robert mochte diese Stelle so sehr.“ Wieder fließen die Tränen.
„Bitte!“, Eva, die Frau mit dem blutigen Rock, schaut den Hai flehentlich an, „Können wir vielleicht den … den …“
Paul Sedlaczek lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und lächelt: „Nein!“ Er beugt sich wieder nach vorne, stützt die Unterarme auf den Tisch, schaut beiden in Augen und sagt leise, aber sehr ernst: „Herr Hartberg wird vollständig begraben. Vollständig! Verstehen Sie?“
Dann steht er langsam auf und verlässt den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Draußen steht der Beamte, dem er seinen gerollten Mantel in die Hand gedrückt hatte, mit eben jenem Trenchcoat auf einem Bügel: „Herr Rat, ich habe mir erlaubt, Ihren Mantel aufzubügeln.“
„Guter Mann.“, sagt Der Hai und schüttelt nachdenklich den Kopf. Er weiß wieder einmal nicht, woran ihn das erinnert.